Rezension: Englischer Harem von Anthony McCarten


In “Englischer Harem” erzählt uns Anthony McCarten eine Geschichte der Toleranz. Denn Toleranz ist gefordert, als die 18jährige Tracy ihren geschockten Eltern, aus der gutbürgerlichen Londoner Mittelschicht, vom neuen Mann in ihrem Leben erzählt: er ist Perser, er ist deutlich älter als sie und er hat bereits zwei Ehefrauen. Diese Liebe ist sowohl den Eltern, als auch Tracys Umfeld und selbst den Behörden ein Dorn im Auge…

Es ist erstaunlich und berührend zu beobachten, wie man im Verlauf der Handlung eine solch ursprünglich wirklich extrem erscheinende Situation einfach versteht. Liebe ist nichts, was irgendwie geplant wird, sie passiert einfach. Und so verliebte ich mich auch Seite um Seite in Tracy, ihren persischen Ehemann Sam und den ganzen Harem. Alles scheint wirklich richtig, passend und beinahe unausweichlich.
In den Kapiteln des Buches können wir mal aus Tracys Perspektive, mal aus der ihrer Eltern oder Sams die Entwicklung dieser besonderen Beziehung verfolgen. Dadurch bleibt wenig Raum für Intoleranz: sie sind alle liebenswert, nachvollziehbar und mit ihren eigenen Problemen beladen.

Mal wieder bin ich dem besonderen Zauber von McCartens Figuren erlegen. Tracy kommt aus einfachen Verhältnissen, ihre Eltern symbolisieren die pure Sachlichkeit. Trotzdem träumt sich die junge Frau gern in die Handlung ihrer Bücher und riskiert damit schon mal den Job. In ihrer Beziehung mit Sam wiederum ist sie doch keine Traumtänzerin.
Und Sam ist zwar “stolzer” Ehemann eines kleinen Harems, aber weder ein Weiberheld noch der muslimische Pascha im Haus, den da mancher vor Augen hat. Seine Beweggründe und Gefühle lassen ihn beinahe verletzlich erscheinen und machen ihn umso sympathischer.

In diesem Buch werden mit leisem Humor und einem ganz scharfen Blick die Vorurteile, die häufig mit “dem Islam” verbunden werden auseinander genommen. Wir treffen weder gewalttätige Männer noch unterjochte Frauen in Burka, sondern Figuren die sich dieser Vorurteile sogar noch bewusst sind. Die üblichen Klischees wirken da wirklich fehl am Platz.
Trotzdem werden Sam und seine Ehefrauen nicht schlicht als “normale Engländer” dargestellt. Ihre Kultur (und sei es die Küche!) ist nicht alles dominierend, aber besonders. Ein bisschen 1.001 Nacht in London.
Außerdem werden auch ganz allgemein Fragen des Mitgefühls und des “über sich hinauswachsens” behandelt. Wie reagieren Menschen auf Ungerechtigkeit oder Gewalt? Warum wird so oft weggesehen? Können wir so etwas noch akzeptieren, wenn wir die Opfer endlich als Menschen kennengelernt haben?

Obwohl ich thematisch nicht so viel erwartete, wurde ich reich belohnt, zum Nachdenken gebracht und wunderbar unterhalten. Wie immer bei McCarten werden kluge Themen wunderbar leicht verpackt. Für mich ein kleiner Schatz, 5 von 5 Leseratten.

Das Buch in einem Tweet:

“Englischer Harem” von Anthony McCarten, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, erschienen im Diogenes Verlag, 592 Seiten, 11,90 € (Taschenbuch)

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