Rezension: Der amerikanische Architekt von Amy Waldman


Stell dir vor eine Gedenkstätte für die Opfer von 9/11 soll errichtet werden. In einer Ausschreibung werden anonym Entwürfe eingereicht und von einer fachkundigen Jury bewertet. Dann stellt sich heraus, dass der Gewinner des Verfahrens ausgerechnet ein Moslem ist. Kein fundamentalistischer, nicht mal ein wirklich praktizierender aber eben unleugbar ein Moslem. Geht das? Fühlt sich das richtig an? Was würde passieren?

In „der amerikanische Architekt“ geht es um genau dieses Gedankenexperiment. Über die Bebauung von Ground Zero entbrennen innerhalb der Jury der Ausschreibung aber auch in der gesamten Bevölkerung New Yorks heftige Diskussionen. Die Diskussionen drehen sich um die Bedeutung von Kunst und die Frage ob ein Kunstwerk vom Künstler zu trennen ist. Interpretieren wir ein Kunstwerk anders, wenn wir Informationen über seinen Schöpfer haben?
Vor allem aber geht es um Toleranz. Wie „idiotisch“ ist Toleranz? Wie weit darf man sich von Vorurteilen und Ängsten leiten lassen? Führt nicht gerade dieses Verhalten zu Extremismus und Fanatismus? Werden, quasi als selbsterfüllende Prophezeiung, ausgegrenzte Individuen zum Feind eines Systems? Wie weit gehört andererseits eine Gedenkstätte allein den Opfern? Fügt man ihren Hinterbliebenen noch mehr Schmerz zu, wenn man dies ignoriert?
Diese (und eine Menge mehr) Fragen stürmten während der Lektüre von „Der amerikanische Architekt“ auf mich ein. Aus einer eigentlich recht simplen Fragestellung entspinnen sich in diesem Buch viele moralische und ethische Probleme. Es mögen eine Reihe von Problemen sein, die uns noch vor wenigen Jahren sehr theoretisch vorgekommen wären. Heute, gerade im Hinblick auf Pegida und AFD, halte ich die Konfrontation mit den eigenen Vorurteilen für besonders wichtig.

Niemand ist wirklich frei von Vorurteilen und es gibt Situationen, in denen uns die Gefühle stärker im Griff haben als es die Vernunft könnte. Diese Tatsache wird plötzlich mit dem Begriff „postfaktisch“ thematisiert, war aber eigentlich doch schon immer Teil unseres Menschseins.
Ich habe mich während der Lektüre immer wieder gefragt, ob es in Ordnung wäre sich im Hinblick auf solch eine Gedenkstätte diesen Gedanken hinzugeben. Wie würde ich, ganz persönlich, die Situation bewerten? Und wie wäre es in einem anderen Fall: stell dir vor eine Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust soll errichtet werden und der Architekt der Gedenkstätte sei der Sohn eines bekannten Nationalsozialisten. Wie wäre die Lage in dieser Situation? Ist das ähnlich oder doch ganz anders?

Es hat mich tief bewegt, wie im Verlauf der Geschichte die Gedenkstätte, ein eigentlich friedlicher und schön geplanter Garten, immer mehr mit negativen Gefühlen aufgeladen wurde. Eine wirklich beeindruckende Metapher.

Anfänglich habe ich damit gehadert, dass der wichtigste Charakter (quasi Dreh- und Angelpunkt der Geschichte), der betroffene Architekt, im Buch wirklich unsympathisch scheint. Er wird verschlossen und distanziert charakterisiert, ein wenig zu ambitioniert und teils arrogant. Gerade dadurch entstand aber bei mir die spannende Situation, dass ich das Wort „Toleranz“ noch einmal ganz anders betrachtete. Mitgefühl für einen sympathischen und „nahen“ Menschen zu aufzubringen, ist wirklich leicht. Aber ist Toleranz nicht etwas grundsätzliches, das eben nicht direkt wieder mit „eigentlich, aber“ relativiert werden sollte?
Allgemein fällt in diesem Buch auf, dass alle Protagonisten durch ihre Schwächen charakterisiert werden. Die Hinterbliebenen der Opfer von 9/11 kämpfen mit ihren Traumata, sind beeinflussbar und manchmal selbst manipulativ, Politiker suchen den direkten Weg zur Macht. So wird es im Buch schwer einfache und klare Grenzen zu ziehen.

Noch dazu ist der „Kampf“ um die Gedenkstätte spannend beschrieben, die Geschichte birgt viele Konflikte und Wendungen, die immer wieder andere Aspekte und Überlegungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Mich hat diese Geschichte sehr bewegt und mir unzählige Fragen gestellt. Das Buch hat mit mir genau das gemacht, was ich von einem richtig guten Buch erwarte: meinen Horizont ein Stückchen erweitert.

Das Buch in einem Tweet:

 

“Der amerikanische Architekt” von Amy Waldman, übersetzt von Brigitte Walitzek, erschienen im Heyne Verlag, 512 Seiten, 9,99 € (Taschenbuch)

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