Rezension: Die Terranauten von T.C. Boyle


Eigentlich renne ich selten direkt am Erscheinungstag eines Buches los, um es zu kaufen. Bei “Die Terranauten” von T.C. Boyle musste ich da eine Ausnahme machen. Ich habe einfach schon zu lang darauf hin gefiebert!

In “Die Terranauten” erzählt T.C. Boyle mal wieder eine völlig verrückte Geschichte, die aber diesmal sogar grundsätzlich auf wahren Begebenheiten basiert. Boyle berichtet vom “Ecosphere 2” Versuch in den 80er Jahren, bei dem vier Männer und vier Frauen für zwei Jahre in eine riesige abgeschlossene Ökosphäre gesperrt wurden. Sie sollten in diesem gigantischen Gewächshaus eigentlich Forschungen über das Verhalten von Arten in abgeschlossenen Systemen durchführen. In Boyles Roman entwickelt sich dieser Versuch aber vor allem zum psychologischen Experiment, denn es passiert das völlig unerwartete: eine Terranautin wird schwanger. Was daraus entsteht, könnte in keiner Reality-TV-Soap besser beschrieben werden.

Einfach herrlich! Für mich war “Die Terranauten” ganz große Unterhaltung. Ja, es geht auch um die Erhaltung von Ökosystemen und die heikle Balance in abgeschlossenen Systemen. Das ist sogar ziemlich gut verpackt, gibt viel Stoff zum Nachdenken und durch die tollen Beschreibungen des Habitats meint man “Ecosphere 2” wahrhaftig vor sich zu sehen. Aber ganz ehrlich? Das Drama um die schwangere Terranautin, die Eifersucht und Eitelkeiten in der Crew und in Mission Control, die das Experiment betreut, waren einfach der treibende Faktor der Geschichte!

“Wir waren die Erhalter und Bewahrer dieser Welt, Götter unter Glas, die sich wie Affen gebärdeten.”

Die Experimente wurden zwar aus wissenschaftlichen Beweggründen initiiert, waren aber auch diesem ganzheitlichen New Age Gedanken verschrieben, der für diese Zeit typisch ist. Dadurch passt Boyles Geschichte einfach perfekt in die Kulisse der wahren Begebenheiten. Viele Ereignisse der tatsächlichen Experimente hat er (teils überspitzt) in den Roman eingebaut und gibt ihm damit überraschend viel Authentizität.

Die Geschichte wird durch die Aufzeichnungen von drei Protagonisten erzählt. Da ist Linda Ryu, die bei der Auswahl zur Crew übergangen wird und nun in Mission Control arbeitet. Ihre Berichte geben genau ihr zähneknirschendes, eifersüchtige Wesen wieder und schwanken zwischen tief deprimiert und himmelhoch jauchzend.
Dann ist da Dawn Chapman, der Star von Mission 2. Sie wird nach ihrer Liebelei mit Ramsey Roothoorp schwanger und zum absoluten Mittelpunkt der Handlung. Ihre Aufzeichungen machen die deutlichste Entwicklung durch: der Einschluss im Habitat verändert sie nachhaltig und bringt sie auf einen ziemlich heftigen Selbstfindungstrip.
Schließlich ist dann noch Ramsey selbst, Vater des Ecosphere-Babies und Frauenheld der Gruppe. Obwohl er ein ziemlich seltsamer Typ ist, scheinen seine Aufzeichnungen die normalsten zu sein, werden aber auch dadurch gefärbt, dass er der PR-Agent des Experiments ist.

Es ist toll gelungen, wie sich die wechselnden Abschnitte in Stil, Perspektive auf die Geschichte und Entwicklung unterscheiden. Auf diese Weise lernen wir drei Teilnehmer des Experiments sehr nah kennen und können das ganze Ausmaß der Dramen wirklich genießen. Es kommt im Verlauf der Handlung nämlich immer wieder zu Lügen und Manipulationen zwischen den Protagonisten, die so herrlich zur Geltung kommen. Die übrigen Protagonisten bleiben hinter den drei erzählenden Stimmen übrigens alle halbwegs blass, finden aber in meinen Augen fast ausnahmslos  genug Raum in der Erzählung. Boyle wählt genau das richtige Maß an Details und Aussparungen und erzählt die Geschichte erfreulich linear und klar.

Das Buch dreht sich um Eitelkeit, Gruppendynamik und Eifersucht. Vielleicht nicht ganz psychologisch ausgefeilt aber sehr menschlich. Anhand einer Extremsituation werden von Boyle ganz alltägliche Befindlichkeiten auseinandergenommen und (manchmal ziemlich sarkastisch) seziert. Wie bei einem richtigen Experiment eben. Für meine bisherigen Erfahrungen ist das ein ganz typischer (irre, komisch und ein bisschen böse) und ganz untypischer (hat er je solch eine Soap geschrieben?) Boyle und hat mich völlig begeistert. Ganz klar 5 von 5 Leseratten.

Das Buch in einem Tweet:

“Die Terranauten” von T.C. Boyle, übersetzt von  Dirk van Gunsteren, erschienen im Hanser Literaturverlag, 606 Seiten, 26,00 € (Hardcover)

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4 Comments

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  1. 1
    Christoph

    Hatte mich schon „Wenn das Schlachten vorbei ist“ viel Mühe bereitet es zu Ende zu bringen, so war ich auch bei „Die Terranauten“ einige Male kurz davor, von T. C. Boyles neuestem Werk abzulassen. Die Geschichte basiert wie man es vom Autor gewohnt ist auf echten Tatsachen, Boyle kann hier aber weder die historischen Gegebenheiten mit seinem sonst gängigen Wortwitz aufwerten, noch den gezwungenermaßen auf unsympathisch getrimmten Figuren ein interessantes Leben einhauchen. Dazu ist die Konstruktion banal, die Geschichte vorhersehbar und das Ende durch und durch unbefriedigend. Sehr zahm und dröge und kaum zu vergleichen mit seinen mich heute noch belustigenden Klassikern wie „Grün ist die Hoffnung“ oder „Wassermusik“.

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