Rezension: Die Schuld der anderen von Gila Lustiger


“Die Schuld der anderen” von Gila Lustiger ist eines dieser wunderbaren Bücher, die jeder Leser ein bisschen anders lesen wird. Für die einen ist es ein Kriminalroman, der sich nebenbei intensiv mit der französischen Gesellschaft und den kleinen Dramen, die aus Gier entstehen, beschäftigt. Für die anderen ist es ein Gesellschaftsroman, in dem nebenbei ein interessanter Kriminalfall aufgerollt wird.

Ich persönlich gehöre ja zu den Lesern, für die der gesellschaftliche Aspekt überwog und die größte Faszination ausübte. Natürlich dreht sich die Geschichte augenscheinlich um den knapp dreißig Jahre zurückliegenden Mord an einer jungen Prostituierten und den “Ermittlungen” eines ambitionierten Reporters in diesem Fall. Dieser Kriminalfall ist jedoch nur der Einstieg zu einer viel tiefgreifenderen Geschichte. In “Die Schuld der anderen” geht es um die Gier der Wirtschaftseliten und um die Sprach- und Machtlosigkeit derer, die von Ihnen abhängig sind. Abhängig von der Anstellung in den großen Unternehmen, die bereit sind in die sonst trostlosen Regionen zu investieren.
Obwohl im Verlauf der Handlung immer komplexere Zusammenhänge und Entwicklungen aufgedeckt und erklärt werden, hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass die Geschichte überfrachtet wäre. Viel mehr entwickeln diese Aspekte ihre eigene Spannung.

Ich persönlich habe aber auch eine große Vorliebe für diese Art von Geschichten, in denen Schicht für Schicht eine tiefere Wahrheit oder ein besonderes Geheimnis (Achtung, Schlüsselwort!) enthüllt wird. “Die Schuld der anderen” ist für diese Vorliebe eine perfekte Lektüre. Der Reporter Rappaport, den wir auf seinen Recherchen begleiten, wühlt sich durch Archive, spricht mit den Einwohnern einer kleinen und verschwiegenen Gemeinde und dringt immer tiefer in unglaubliche Verwicklungen vor. Ich konnte das Buch daher kaum aus der Hand legen.

Dieses Buch wird trotzdem keine passende Lektüre sein für Leser, die laute und rasante Bücher lieben. Zu langsam und zurückhaltend entwickeln sich hier Handlung und Spannungsbogen. Es ist eben ein doch eher nachdenklicher Roman und nur am Rande ein Krimi. Viel mehr wird auf die leisen Zwischentöne und genauen Beobachtungen Wert gelegt. Das hat mir persönlich aber gerade bei den Gesprächen des Reporters mit den verschiedenen Beteiligten des Kriminalfalls großen Spaß gemacht. Alle Figuren werden toll skizziert und ergeben am Ende einen spannenden Querschnitt durch die Gesellschaft.

Mich persönlich hat die Thematik in “Die Schuld der anderen” absolut begeistert. Wie die wirtschaftlichen Abhängigkeiten eine ganze Region lähmen und prägen können und wie Profit und Kapital über die Menschlichkeit gestellt wird, war spannend und auch bedrückend zu lesen. So sehr man es sich wünscht, manche Aspekte sind wohl nicht nur Fiktion.

“Die Schuld der anderen” von Gila Lustiger, erschienen im Berlin Verlag, 492 Seiten, 11,00 € (Taschenbuch)

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