Rezension: Eine fast perfekte Ehefrau von Jonathan Evison


Jonathan Evison schreibt Geschichten über ganz normale, völlig verrückte Menschen. Seine beiden Bücher “Alles über Lulu” und “Umweg nach Hause” haben mich deshalb ziemlich begeistert und vor allem für seinen humorvollen und trotzdem tiefgründigen Erzählstil eingenommen. Auch sein neuestes Buch “Eine fast perfekte Ehefrau” musste ich ganz schnell lesen.

Nach über fünfzig gemeinsamen Ehejahren verstirbt Harriets Mann Bernhard. Harriet ist 78 Jahre alt und das erste Mal auf sich allein gestellt. Dieser neuen Lebenssituation begegnet sie teilweise recht orientierungslos, doch auch mit überraschend viel Elan. Ein Leben lang war Harriet die titelgebende fast perfekte Ehefrau: sie stärkte ihrem Mann den Rücken, steckte für Kinder und Haushalt ihre eigenen Träume stets zurück. Nun wo die Kinder längst aus dem Haus und ihr Mann verstorben sind, könnte sie doch noch einmal Neues wagen. Sie unternimmt eine Kreuzfahrt nach Alaska (die Bernhard noch vor seinem Tod buchte) und kommt auch ihrer Tochter noch einmal wirklich näher. So einfach und geradlinig wie es klingt, ist das allerdings nicht…

Schon allein die Erzählweise von “Eine fast perfekte Ehefrau” ist nämlich alles andere als geradlinig. In den verschiedenen Kapiteln erleben wir abwechselnd Harriets Gegenwart und einen wilden Ritt durch verschiedene wichtige Etappen ihres Lebens.

“Ja, ja, wir schießen schon wieder quer, springen munter zwischen den Jahrzehnten hin und her, schlingern und trudeln scheinbar völlig planlos durch Ihr Leben.”

Dabei unterscheiden sich aber nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Perspektive der Erzählung wird jedes Mal um 180 Grad gedreht. In der Gegenwart erleben wir aus Harriets Sicht, wie sie sich langsam ihrer Tochter annähert und auch einige wichtige Erkenntnisse über ihr gemeinsames Leben mit Bernhard gewinnt. Diese Etappen sind gekennzeichnet von einem (meist) mutigen Blick in die Zukunft, Harriet möchte nicht in der Vergangenheit leben sondern ihre letzten Jahre nutzen.
In den Stationen aus Harriets Leben klingt es, als würde ein allwissender Moderator der stumm staunenden Harriet ihr eigenes Leben erklären. Verschiedene (Fehl-)Entscheidungen werden analysiert und die wichtigen Abzweigungen ihres Lebenswegs präsentiert. Durch die Darstellungen in diesen Abschnitten werden auch Harriets gegenwärtige Verhaltensweisen manchmal etwas klarer.

Anders als in den anderen Büchern von Jonathan Evison war “Eine fast perfekte Ehefrau” nicht so offen klamaukig, sondern leise humorvoll und eher von böser Situationskomik und tragisch-komischen Momenten geprägt. Es bleibt trotzdem ein unterhaltsames Buch mit witzigen Momenten und Dialogen, nur eben etwas bedachter als zum Beispiel “Umweg nach Hause”.

Viel mehr wurde in “Die perfekte Ehefrau” die Ausarbeitung der verschiedenen Figuren in den Mittelpunkt gerückt. Es gibt leider einige wirklich vorhersehbare Momente, die man schon aus hundert anderen Geschichten zu kennen meint, aber die Art und Weise wie die Charaktere darin angeordnet sind, hat mich trotzdem bewegt. Allen voran Harriet, die einerseits so bieder und freundlich wirkt, hat ungeahnt schwierige aber auch tragische Seiten.

Diese Geschichte zeigt schön, wie viele kleine Momente oder Entscheidungen unser Schicksal prägen. Und so erlebt man mit der Lektüre, wie sich ein eigentlich ganz normales, stinklangweiliges Leben als viel größeres Drama entpuppt. Eine offene und klare Botschaft und doch hat das Ganze etwas von heimlich “hinter die Fassade schauen”. Für mich 4 von 5 Leseratten und eine echte, wenn auch nicht ganz perfekte, Leseempfehlung!

“Eine fast perfekte Ehefrau” von Jonathan Evison, übersetzt von Andrea O’Brien, erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, 288 Seiten, 19,99 € (Hardcover)

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