Rezension: Fast eine Familie von Bill Clegg


Ich habe mich vor der Lektüre fast gefürchtet, so herzzerreißend schien mir die Geschichte in “Fast eine Familie” von Bill Clegg. Denn da passiert der Protagonistin June wohl das schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Am Vorabend der Hochzeit ihrer Tochter kommt Junes ganze Familie in einem tragischen Brand ums Leben. Von heute auf morgen ist June nicht nur allein, sondern wirklich einsam. Sie existiert nicht mehr in der Beziehung zu anderen Menschen, ist nicht mehr Mutter, Frau oder Exfrau sondern nur noch auf sich gestellt.

Was Bill Clegg daraus macht ist aber weder eine all zu tragische Geschichte über Trauer, noch ein übertrieben euphorisches “alles halb so wild”-Motivationsbuch. Es ist vielmehr eine sanfte, mitreißende und ebenso traurige wie hoffnungsvolle Erzählung über Verlust, Mitgefühl und Familie.
Statt Junes Verlust in voller Wucht zu beschreiben kreist Bill Clegg in seinem Roman aus wechselnder Perspektive und in wechselndem Abstand um das zentrale Drama. In den verschiedenen Kapiteln begleiten wir, jeweils mit ihrer ureigenen Sicht, verschiedene Betroffene des Brandes. Da kommt natürlich June zu Wort, ihr lähmender Kummer aber auch die schmerzhaft schönen Erinnerungen an ihre Liebsten haben mich völlig gefangengenommen. Gerade die anderen Perspektiven sind es aber, die das Bild abrunden und den Roman so richtig faszinierend machen. Es bringen nämlich alle Figuren, auch die Charaktere, die weiter entfernt von Junes Schicksalsschlag stehen,  ihre Sorgen und Nöte mit in die Handlung. Die Geschichte wirkt dadurch aber keineswegs überfrachtet sondern einfach menschlich. Es ist manchmal der Abstand, wie zum Beispiel bei den Abschnitten des Nachbarsjungen, oder auch der Fokus auf völlig andere Probleme, wie bei einem lesbischen Pärchen in einer abgelegenen Pension in die sich June zurückzieht, die das Buch so wunderbar vielschichtig machen. Alle der auftretenden oder im nachhinein beschriebenen Charaktere wirken äußerst facettenreich und ihr Lebenshunger ist unheimlich präsent.

Irgendwie hat sich “Fast eine Familie” für mich fast ein bisschen altmodisch angefühlt, wozu vielleicht auch das Buchcover beiträgt. Ich hatte das Gefühl eines dieser herrlichen Familiendramen aus den 90er Jahren in den Händen zu halten. Sprachlich, thematisch und in der Vielfalt der betrachteten Lebenssituationen ist der Roman aber alles andere als altmodisch und äußerst intensiv.

Gelungen ist vor allem die Darstellung der Entwicklung von Handlung und Figuren innerhalb des Romans. Einerseits klären sich durch die verschiedenen Perspektiven langsam die Hintergründe der Katastrophe, andererseits lassen sich auch persönliche Entwicklungen im Verhalten einiger Figuren beobachten. Dabei kam mir nur tatsächlich June ein wenig zu kurz. Zwar war es befreiend, dass ihr Leid nicht zu ausführlich beschrieben wurde und das Buch gewann dadurch eine gewisse Leichtigkeit, einige ihrer Überlegungen hätte ich jedoch gern noch direkter verfolgt und weiter hinterfragt. Diese Fragen nach Abschied und Loslassen, hätten ruhig noch etwas ausführlicher behandelt werden können.

Insgesamt ist “Fast eine Familie” ein toller und mitreißender Roman, der ganz klassisch aber eben auch modern aufbereitet daherkommt. Keine so schwere Kost, wie es das tragische Thema vermuten lässt und daher tatsächlich im positivsten Sinne massentauglich.

“Fast eine Familie” von Bill Clegg, übersetzt von Adelheid Zöfel, erschienen im S. Fischer Verlag, 314 Seiten, 22,00 € (Hardcover)

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