Rezension: Das Herz kommt zuletzt von Margaret Atwood


Sicherheit und (persönliche) Freiheit sind zwei Ziele, die immer wieder miteinander im Konflikt stehen. Diesen Gedanken hat Margaret Atwood in “Das Herz kommt zuletzt” auf die Spitze getrieben.

In der dystopischen Welt ihres Romans existiert unsere Gesellschaft wie es sie heute gibt längst nicht mehr: durch die Automatisierung beziehungsweise Digitalisierung sind unzählige Jobs überflüssig geworden und die Arbeitslosenzahlen erreichen Rekordwerte, außerdem sind zahlreiche Rohstoffe verbraucht und die Wirtschaft liegt am Boden. In dieser unwirtlichen Welt halten sich Stan und Charmaine nur gerade so über Wasser, sie träumen von einem besseren Leben und suchen verzweifelt nach Arbeit. Dann hört das Paar vom Positron-Projekt, einem Experiment das allen Mitgliedern Arbeit und Wohlstand verspricht. Der Haken? Alle Einwohner von Positron leben jeweils einen Monat in Freiheit und als angesehene Mitglieder der Gesellschaft, haben Arbeit und einen bescheidenen Wohlstand. Den nächsten Monat wiederum verbringen sie als Häftlinge im Gefängnis von Positron, verdonnert zu Zwangsarbeit und ihrer Freiheiten und Rechte beschnitten.

Ihr könnt euch sicher denken, dass Stan und Charmaine in diesem Experiment nicht nur den versprochenen Wohlstand erleben, sondern eben auch mit seinen Problemen und Grenzen konfrontiert werden. In dieser Hinsicht ist “Das Herz kommt zuletzt” ein sehr nachdenkliches und fast schon beängstigendes Buch. Natürlich ist dieser Zusammenhang in der Geschichte sehr ins Extreme getrieben, aber Margaret Atwood hat mit ihrem Gedanken in meinen Augen eine wichtige und aktuelle Thematik getroffen. Wie viel unserer Freiheit sind wir bereit zu opfern, um Sicherheit und Wohlstand zu wahren? Und können wir das überhaupt? Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, die bereit ist die persönlichen Freiheiten des Einzelnen so radikal zu beschneiden? Spannende Themen, die im Buch nicht übermäßig dominant aber immer wieder mit ein, zwei treffenden Sätzen analysiert werden.

Abseits von diesen Themen ist “Das Herz kommt zuletzt” auf der anderen Seite ein unglaublich komisches und unterhaltsames Buch. Denn was Charmaine und Stan erleben, aber auch ihre Charaktere an sich sind wirklich witzig. Es geht um Sexbots, Ehebruch in Gedanken und Häkeln als Zwangsarbeit. Die Handlung ist spannend, dreht und wendet sich immer wieder unerwartet und bringt die skurrilsten, verrücktesten Situationen hervor. Durch all dies wird dem Buch die Schwere genommen und die Welt von Charmaine und Stan verliert ein wenig ihre Schrecken.

Mit Stan und Charmaine hat Margaret Atwood wieder zwei Figuren geschaffen, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Die kitschig-naive Charmaine, die nur mit Zierkissen und gesaugten Böden beschäftigt zu sein scheint, hat es faustdick hinter den Ohren und auch der etwas einfache und eher ruhige Stan wächst in der Not quasi über sich hinaus. Es ist toll gelungen, wie das Schicksal dieser beiden einfachen Charaktere den Zustand einer ganzen Gesellschaft erklärt und eben trotzdem auch eine ganz persönliche Geschichte erzählt.

In mancher Hinsicht ist dieser Roman dadurch auch als Atwood-Einstiegsdroge geeignet. Es zeigt viel ihrer Brillanz, ihrer wahnsinnigen Ideen (ein bisschen verrückt muss diese Autorin doch sein!) und eben auch ihrer Intelligenz, ist aber dennoch locker und unterhaltsam. Ich habe “Das Herz kommt zuletzt” beinahe in einem Rutsch verschlungen und es ist eines der Bücher von Margaret Atwood, dass ich definitiv noch einmal lesen muss. Weil es so leicht und witzig ist, dass man einfach so durch die Seiten fliegt und es viel zu schnell vorbei ist.

Das Buch in einem Tweet:

“Das Herz kommt zuletzt” von Margaret Atwood, übersetzt von Monika Baark, erschienen im Berlin Verlag, 389 Seiten, 22,000 € (Hardcover)

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