Rezension: Lady Orakel von Margaret Atwood


In dieser Woche wurde Margaret Atwood zur Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewählt, sie wurde damit für ihre Werke, die sich besonders mit gesellschaftlichen und politischen Themen beschäftigen, ausgezeichnet.
Ich selbst bin Margaret Atwood schon längst verfallen und lese ihre Bücher immer wieder mit großer Begeisterung. Auch auf “Lady Orakel” habe ich entsprechend sehnsüchtig gewartet, das Buch ist vor Kurzem in einer neuen wunderschönen Taschenbuchausgabe im Piper Verlag erschienen.

Entgegen der sonst eher groß angelegten Geschichten und umfassenden Dystopien der Autorin, dreht sich “Lady Orakel” mehr oder minder nur um die Sorgen und Nöte einer einzigen Person. Das Buch erzählt von Joan Foster, die schon als Kind in ihrer Familie aneckt. Zu pummelig, zu verträumt und immer ein wenig neben den Erwartungen ihrer Eltern. Einzig ihre Tante scheint Verständnis für das Kind zu haben, ist sie doch selbst äußerst korpulent, laut und schrill. Als die Tante verstirbt ist das ein echter Schock für Joan, der sich noch steigert als sie erfährt an welche Bedingung die Erbschaft geknüpft ist: das Geld, welches ihr Freiheit von der Enge der Familie verspricht, wird ihr erst ausgezahlt, wenn sie vierzig Kilo abnimmt. Hat also auch ihre Tante sie nie wirklich akzeptiert?

Auf den ersten Blick dreht sich, wenn man diese Beschreibung so hört, vieles in Joans Geschichte um Gewicht und die äußere Erscheinung. Eigentlich erzählt dieses Buch aber viel mehr die Geschichte einer Suche nach der eigenen Identität, nach dem Kern, der uns als Person wirklich ausmacht. Joan ist Autorin, später Geliebte und beinahe Medium, aber all dies sind nur einzelne Aspekte dessen, was sie definiert. Joan ist auch pummelig, aber das ist schließlich nur eine Facette ihres Charakters.
Diesen Charakter hat Margaret Atwood so unglaublich sympathisch, vielschichtig und interessant entworfen, dass mir Joan im Laufe der Lektüre wirklich ans Herz gewachsen ist. Es ist in diesem Buch weniger die Kette aufregender Ereignisse, die Spannung erzeugt, als viel mehr die Frage, wohin Joans beschwerlicher Lebensweg sich entwickeln wird.

Und unterhaltsam ist dieser Lebensweg allemal, Joan durchlebt die verrücktesten Verwicklungen und trifft die komischsten Figuren. Der Fluss der Geschichte geht dabei ein wenig langsamer voran als üblich bei dieser Autorin, lässt aber viel Zeit für die inneren Monologe, Überlegungen und Geschichten, die unsere Hauptfigur erzählt. Da das alles aus der ich-Perspektive beschrieben wird, kommen wir Joan so nah wie nur möglich. Ich habe dabei vor allem den selbstironischen Ton und leisen Humor der Erzählung genossen.

Das war der Grund, warum ich mein Leben jedes Mal wieder neu erfand: Die Wahrheit war nicht überzeugend.

Auf manchen Leser mögen die Selbstzweifel und Ausflüchte der Hauptfigur vielleicht ermüdend wirken, mich persönlich haben sie zum Nachdenken angeregt. Jeder trägt wohl Aspekte seines Charakters mit sich herum, über die er oder sie ganz und gar nicht glücklich ist. Aber dafür (und für den liebenswerten Rest) den passenden Platz im Leben zu finden, ist es was eigentlich zählt.

Ein bisschen fehlt der große Knall, der Aha-Effekt den man sonst aus Margaret Atwoods Büchern kennt. Es ist eher so, als hätte man eine interessante Person ein Stück ihres Weges begleitet und fragt sich, wohin es danach wohl gehen wird.

“Lady Orakel” von Margaret Atwood, übersetzt von Werner Waldhoff, erschienen im Piper Verlag, 413 Seiten, 11,00 € (Taschenbuch)

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