Rezension: In den Augen der anderen von Jodi Picoult


“Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.” sagte Kurt Tucholsky und trifft damit ziemlich genau die Problematik dieses Buches. Statt auf Menschen mit Autismus aufmerksam zu machen und ihre Probleme sowie Fähigkeiten zu thematisieren, werden alte, falsche und zum Teil gefährliche Klischees bedient und bestimmte Bilder der Behinderung weiter in den Köpfen der Leser festgeklopft. Man beachte, dass das Buch erst 2011 erschien. Wir sprechen hier also nicht von einem Roman aus einer Zeit, in der man es “nicht besser wusste”.

Eigentlich funktionieren alle Romane von Jodi Picoult nach einem recht ähnlichen Rezept: man nehme eine seltene/schlimme Krankheit oder ein schweres Schicksal, mische es mit einer herzerwärmenden Geschichte, einer Prise dramatischer Gerichtsprozesse und füge am Ende die ein oder andere Überraschung hinzu. Das funktioniert meist ziemlich gut und ich mag die Romane der Autorin normalerweise sehr.

In “In den Augen der anderen” dreht sich alles um Jacob, einen jungen Mann mit Asperger Autismus (“schlimme Krankheit”: check!), der des Mordes an seiner Sozialtherapeutin angeklagt wird (“dramatischer Gerichtsprozess”: check!). Eigentlich ist seine Therapeutin aber gerade einer der wenigen Menschen, die Jacob besonders mag, obwohl er doch sonst kaum einen Menschen an sich heran lässt (“herzerwärmende Geschichte”: check!). Natürlich kämpft seine Familie vor Gericht für Jacob und versucht seine Unschuld zu beweisen, ohne zu Spoilern kann ich sagen: auf überraschende Wendungen oder besondere Erkenntnisse warten wir leider vergeblich.

In dieser Geschichte eckte ich inhaltlich trotz der gewohnten Muster nun immer wieder deutlich an, ungefähr bei einem Viertel des Buches angekommen, setzte ich daher folgenden Tweet ab:

Zwar konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich benennen, ob die Darstellung des Asperger Autismus wirklich völlig falsch ist, beziehungsweise was daran nicht stimmt, einige Klischees sind mir aber immer wieder sauer aufgestoßen.

Auf diesen Hilferuf meldeten sich sowohl @Fuchskind als auch @elodiyla zu Wort und halfen mir, das im Roman gezeigte Bild des Asperger Autismus besser zu verstehen.

Ich kann es kurz zusammenfassen: die wenigen Punkte, die mich ganz konkret aufgerüttelt haben, waren nur ein kleiner Teil dessen, was dort an gefährlichen und veralteten Vorstellungen präsentiert wird. @elodiyla hat dazu den wirklich tollen Beitrag “Kritik einer Leseprobe” geschrieben, den ich euch wärmstens ans Herz legen möchte. Punkte, die mich besonders aufgerüttelt haben, waren vor allem:

  • Autismus ist keine “Skala” mit oben und unten, gut und schlecht, sondern ein Spektrum verschiedenster Ausprägungen einer wirklich komplexen Behinderung.
  • Autisten sind sehr wohl in der Lage zu kommunizieren und das buchstäbliche wörtlich nehmen von Aussagen ist doch oft überzeichnet, zwar sind diese Kommunikationsprobleme ein mögliches Symptom, aber nicht so allgegenwärtig wie in diversen Romanen dargestellt
  • eigentlich habe ich es schon gewusst, aber noch mal in Erinnerung gerufen “Rain Man” war ein Savant, kein Autist
  • Routinen sind hilfreich für viele Autisten, aber der dargestellte minutiöse Tagesablauf ein echtes Klischee
  • Autismus lässt sich nicht mittels Nahrungsergänzungsmittel und ausgeklügelter Diäten “heilen”
  • man spricht besser von einer “Behinderung” und nicht von einer Krankheit, da es keine vorrübergehende Erkältung ist, sondern eine dauerhafte (wie auch immer geartete) Einschränkung
  • Autismus ist keine Modekrankheit, sondern wird heute nur besser erkannt und genauer diagnostiziert
  • das Autismus von Impfungen ausgelöst wird, ist ein altes Gerücht und nirgends verifiziert, die dahinterliegende Geschichte würde noch eigene Blogbeiträge füllen

Leider werden diese Klischees im Roman allesamt ohne Relativierung oder Richtigstellung als “wahr” vorgestellt. Das ist mir ganz besonders sauer aufgestoßen, da der junge Mann im Roman ständig als “Kind” benannt und angesprochen wird. Das empfinde ich als wirklich respektlos. Zwar stellt die Autorin in einigen Kapiteln sein Innenleben dar, diese Perspektive wird aber nicht genutzt um bestimmte Darstellungen richtigzustellen. Die Chance des anderen Blickwinkels blieb ungenutzt. Es werden im Gegenteil noch die “Vorteile” einer ABA Therapie angedeutet, deren bloße Beschreibung mir Übelkeit bereitet.

Aber auch abseits der inhaltlichen Kritik, hat dieses Buch mich leider vollends enttäuscht.

Die Geschichte ist so vorhersehbar wie nur möglich und nach circa einem Drittel des Romans weiß wirklich jeder Leser was passieren wird. Ich habe das Buch dann nur noch in der Hoffnung beendet, dass diese erwartete Auflösung eine Finte sein könnte. Spoiler: war es nicht.

Die Figuren sind platt und nach wirklich lausigen Klischees aufgebaut. Die Mutter des “behinderten Kindes” die aufopferungsvolle Löwin, Jacobs Bruder das neidische Geschwisterkind mit Hass auf den behinderten Bruder, der Vater ein IT-Yuppie mit “leichtem Hang zum Autismus”. Wirklich jede Figur ist ziemlich genau so wie sie scheint, mehrere Facetten, Ecken und Kanten erwartet man vergebens.

Solltet ihr das Buch noch ungelesen zu Hause haben, werft es aus dem Regal. Habt ihr es gelesen, werft es bitte aus den Köpfen. Meine Ausgabe landet nicht im Bücherschrank, sondern in der Papiertonne.

“In den Augen der anderen” von Jodi Picoult, übersetzt von Rainer Schumacher, erschienen im Bastei Lübbe Verlag, 685 Seiten, 9,99 € (Taschenbuch)

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