Angehört: Wir von Jewgenji Samjatin


Schon seit meiner Kindheit liebe ich Hörspiele. Ich mag die Verbindung von verschiedenen Stimmen, Musik und Geräuschen. Damit, so finde ich, lassen sich Geschichten viel lebendiger erzählen, als in einem Hörbuch. Heute möchte ich euch „Wir“ vorstellen, es hat den Deutschen Hörbuchpreis 2016 in der Kategorie „Bestes Hörspiel“ gewonnen.

WIR„Wir“ von Jewgenji Samjatin
Der Audio Verlag
2 CDs, Laufzeit 1 h 35 min
16,99 € (Audio CD)

„Wir“ erzählt die Geschichte einer Welt, in der es kein „ich“ mehr gibt. Nach dem 200-jährigen Krieg besteht nur noch der einzige Staat. Dieser Staat ist ein totalitäres System, das auf die vollständige Kontrolle des Individuums ausgelegt ist. In der Welt von „Wir“ sind Menschen bloße Nummern. Jede Individualität wird verhasst. Mathematisches ist schön, die Phantasie und Gefühle eine Plage. Trotz (oder gerade wegen) der strikten Reglementierung gibt es immer noch Menschen, die sich dem System widersetzen wollen…
Die Handlung der Geschichte wird durch die Tagebucheinträge der Nummer D-503 in der ich-Perspektive erzählt. D-503 ist Raketenkonstrukteur und eine brave Nummer im System des einzigen Staates. Eigentlich hat er sein Leben nie hinterfragt, bis er auf I-330 trifft. Sie gehört zu den Widerständlern und bringt zum ersten Mal D-503s Grundsätze ins Wanken. Hat der Mensch doch eine Wahl?

Die Dramatik der Geschichte zieht sich vor allem aus der Entwicklung von D-503. Im Laufe der Geschichte war für mich sehr interessant, ob er es schaffen wird, sich dem System zu widersetzen. Seine inneren Kämpfe waren schön zu verfolgen. Außerdem sorgen die Konflikte zwischen dem sehr harten und logischen Rahmen des Systems und den aufkeimenden Gefühlen der Figuren für Spannung.

Mich hat „Wir“ sehr beeindruckt. Die Sprecher haben ihre Rollen wunderbar getragen. Dazu kommen schöne Effekte und eine tolle musikalische Untermalung. Zum Teil war mir die Orchesterbegleitung zu dominant und schwer für die Geschichte. Aber die Passagen, welche nur mit Klavier, Synthesizer oder Streichern begleitet wurden, wirkten ganz leicht und futuristisch.

Jewgenji Samjatin schrieb seinen utopischen Zukunftsroman schon im Jahr 1920. Seine Vision einer gläsernen Stadt und des vollkommen überwachten Systems ist trotzdem immer noch aktuell. Viele Details der Geschichte, wie die Gehirnwäsche durch immer wiederkehrende Durchsagen des „Wohltäters“, werden auch in späteren Dystopien wieder aufgegriffen. Allgemein erinnert die gottgleiche Gestalt des „Wohltäters“ an den Großen Bruder aus Orwells „1984“. Dies ist aber kein Wunder, denn „Wir“ diente sowohl Orwell als auch Huxley (für „Brave New World“) zur Inspiration.

Für alle, die kluge und anspruchsvolle Geschichten mögen und einen Faible für düstere Zukunftsvisionen haben, ist „Wir“ definitiv einen Versuch wert. Nicht unbedingt ein Hörspiel für müde Köpfe abends im Bett, aber viel Futter zum Nachdenken und diskutieren.

Und sonst…

  • George Orwell hat “Wir” tatsächlich auch einmal rezensiert. Mehr dazu gibt es hier.

2 Comments

Add yours
  1. 1
    Kerstin Scheuer

    Das klingt aber wirklich sehr interessant. Ich glaube, das werde ich mir auch noch anhören. Vor allem die Orchesterbegleitung reizt mich daran.
    Dass es sowohl als Inspiration für 1984 als auch Brave New World gilt, habe ich auch schon gehört. Seltsam, dass man vor der Preisverleihung noch nichts von dem Buch bzw. Hörspiel gehört hat, oder?
    Aber stimmt das tatsächlich, dass das Hörspiel nur 1:35 h dauert? Und wieso gibt es denn dann 2 CDs?
    Alles Liebe.
    Kerstin Scheuer

  2. 2
    lesenslust

    Hi Alexandra,

    eine wirklich schöne Besprechung. Ich finde es immer wieder interessant, wie ein und dasselbe Werk auf so unterschiedliche Weise beschrieben werden kann. In vielen deiner Zeilen habe ich mich wiederentdeckt und konnte die Worte lesen, die mir nicht so richtig eingefallen sind. Auch ich empfand die Orchesterbegleitung an der ein oder anderen Stelle etwas zu wuchtig bzw. dominant. Insgesamt hat mir das Hörspiel aber sehr gefallen, auch wenn ich die Story an sich sehr anspruchsvoll fand.

    Was ich mich gerade tatsächlich frage, ist, warum ich noch nie wirklich auf Read Pack gestöbert habe. Ich verfolge schon seit einiger Zeit die Social Media Kanäle, kann mich aber nicht erinnern, hier schon einmal länger verweilt zu haben. Nun denn, das wird nun nachgeholt.

    Liebe Stöbergrüße

    Steffi

Schreibe einen Kommentar zu lesenslust Antworten abbrechen