Rezension: “Die Gabe” von Naomi Alderman


Ob unsere gesellschaftlichen Strukturen allein im Kräfteverhältnis zwischen Männern und Frauen begründet liegen, kann ich nicht sagen. Sicher ist jedoch, dass die körperliche Überlegenheit meist auf der Seite der Männer liegt, sie häufig dominanter und selbstbewusster erzogen werden und so Mädchen schon von klein auf lernen, sich unterzuordnen. Diese Rollen ziehen sich schon durch viele Jahrhunderte (Jahrtausende?) der Menschheitsgeschichte und scheinen unverrückbar. In Naomi Aldermans Dystopie (oder Utopie?!) “Die Gabe” wird die bestehende Kräfteverteilung nun von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Junge Mädchen und Frauen entdecken die Gabe in sich nur mit ihrer Berührung starke Stromstöße zu verteilen. Plötzlich sind Frauen in der Lage zu verletzen und zu töten ohne mit der Wimper zu zucken. Diese Kraft gibt ihnen die Möglichkeit überall auf der Welt gegen Unterdrückung und Missbrauch aufzubegehren. Plötzlich sind es die Männer, die sich in einer prekären Situation wiederfinden.

Schon wie die Geschichte dieses Buches “verpackt” wird, ist unfassbar ideenreich und einfach perfekt: der Geschichte voran steht ein Briefwechsel zwischen zwei Personen. Ein männlicher Autor wendet sich an seine weibliche Lektorin, sie soll bitte den von ihm verfassten historischen Roman lesen und bewerten. Irgendwie irritierte mich dieser Einstieg und machte gleichermaßen neugierig. Ein historischer Roman?

Tatsächlich werden dann im Verlauf der Geschichte die Geschehnisse sehr logisch und chronologisch erzählt. Zwischen den verschiedenen Etappen der Handlung werden zudem “historische Objekte” gezeigt, die auf eine verlorene Gesellschaft vor der Gabe hindeuten. Alles andere an diesem Roman ist jedoch zunächst weit weg von einem historischen Roman. Er ist vielmehr eine phantastische Mischung aus Dystopie und Actionthriller. Ein Buch das vor Spannung und Ideen nur so knistert, ein wenig verrückt wirkt und doch so klar und deutlich Themen benennt, die aktueller nicht sein könnten. Es geht um nicht weniger als den Sinn und Unsinn unserer Geschlechterdefinitionen und den Rollen, die diesen Geschlechtern zugeordnet sind.

Literarisch fehlt es an einigen kleinen Ecken um richtig perfekt zu sein, aber das was das Buch mit dem Leser macht, ist ganz großes Kino: es hinterfragt unsere typischen Denkweisen und gesellschaftlichen Strukturen so, dass es beinahe weh tut und und hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor. In einer Szene wird ein Mann von einer Gruppe von Frauen vergewaltigt, es ist Krieg und die Soldatinnen völlig außer Rand und Band. Es tut fast körperlich weh diese Szenen zu lesen, immer wieder dachte ich “nein, das würde so nicht passieren”, schließlich kann keiner so grausam sein?! Doch so etwas passiert, mit vertauschen Rollen ist es genau das, was wir täglich in den Nachrichten hören.
Männlich Babys sind weniger wert und werden vermutlich abgetrieben oder getötet? Einflussreiche Frauen halten sich jüngere Männer nur auf Grund ihres guten Aussehens als Sexobjekte? All diese Ideen scheinen absurd, bis man sich diese Konstellationen mit vertauschen Rollen vorstellt. So hat Naomi Alderman bestehende Realitäten zur Dystopie gemacht. Es ist schwer zu beschreiben, welche Wirkung das beim Leser auslöst. Mich überkam ein Gefühl zwischen Faszination, Ekel, Wut und völligem Unglauben. Warum hat sich dieser Wahnsinn entwickelt?

Manchmal schienen mir die handelnden Personen des Romans ein wenig unglaubwürdig oder unsympathisch, für ihren Zweck jedoch waren sie durchweg gut geeignet. Statt einzelnen Individuen sind sie eher Muster ihrer jeweiligen Rolle und Funktion. Alle sozial wichtigen Charaktere sind Frauen: der nächste Messias genauso wie die harte Politikerin, die sich in der kriegerischen Ausbildung junger Mädchen engagiert. Die Männer sind in dieser Geschichte eher dünn gesät und erscheinen als furchtsame Untergrundkämpfer oder missgünstige, ehemalige Patriarchen auf der Bildfläche.

Trotz ganz viel Bedeutung und Symbolik und trotz etlicher sozialer Fragen, die dieses Buch aufwirft war “Die Gabe” für mich aber vor allem unterhaltsam. Das Buch ist flott geschrieben, spannend und actiongeladen. Das mag für die eine oder andere Leserin, die sich gern intensiver mit der dahinterliegenden Thematik beschäftigen würde, vielleicht störend wirken, es hilft jedoch zu verhindern, dass das Buch zur trockenen Gesellschaftsstudie wird.

Dennoch gibt uns der Roman so viele wichtige Ideen und Gedanken mit, dass er hoffentlich dabei hilft umzudenken, sowohl im Hinblick auf unsere Vergangenheit als auch, und vor allem, im Hinblick auf unsere Zukunft.

“Wie wir über unsere Vergangenheit denken, zeigt, was wir heute für möglich halten. Wenn wir an den selben alten Vorstellungen über die Vergangenheit festhalten (…) leugnen wir, dass sich überhaupt etwas ändern kann.”

Am Ende der Geschichte schlägt der Roman dann übrigens einen Bogen zum Anfang. Die Lektorin antwortet dem fiktiven Autor der Geschichte, seine Erzählung wäre wohl doch etwas zu phantastisch. Kriegergruppen aus Männern in einer Zeit vor der Gabe wären ja doch etwas an den Haaren herbeigezogen und sowieso wäre er als männlicher Autor schwer am Markt unterzubringen. Ob er nicht über einen weiblichen Künstlernamen nachdenken wolle? Absurd?! Ich weiß nicht…

“Die Gabe” von Naomi Alderman, übersetzt von Sabine Thiele, erschienen im Heyne Verlag, 464 Seiten, 16,99 € (Klappbroschur)

4 Comments

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  1. 1
    Janna | KeJas-BlogBuch

    UH! Na da bin ich ja jetzt froh, das das Buch bereits hier liegt! Eine wundervolle Rezension, die zum lesen anzuckert! „Schon wie die Geschichte dieses Buches “verpackt” wird, ist unfassbar ideenreich und einfach perfekt“ – alleine schon dieser Satz. Was du zum Ende geschrieben hast, habe ich nun aber frech überlesen ;)

    Wünsche einen mukkeligen Sontag!

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