Rezension: Ich und andere Irrtümer von Steve Ayan


Eins vorab: dieses Buch ist nichts für Menschen, die ihr „wahres Ich“ entdecken wollen oder mit einer Reihe von Psycho-Tests versuchen möchten zu großer Selbsterkenntnis zu gelangen. Vielmehr ist es ein Buch für all jene, die verstehen wollen ob bzw. in wie weit es Selbsterkenntnis überhaupt gibt.

Um klar zu machen wie gut – oder besser gesagt wie schlecht – wir uns kennen, erläutert Steve Ayan eine Menge von Experimenten und psychologischen Konzepten.
Er erklärt, warum es für unser Gehirn sinnvoll ist, dass wir nur das Beste von uns glauben und wie dieser Glaube mit selektiver Wahrnehmung und gezielten Vergleichen stetig weiter gestärkt wird. Wir alle wollen möglichst gut über uns selbst denken und ziehen daher immer jene Beispiele heran, die zum jeweiligen, positiven Kontext passen.
Ich selbst möchte zum Beispiel gern glauben, dass ich großzügig bin (bin ich, wirklich!) und denke dabei an jene Momente, in denen ich großzügig Trinkgeld oder Spenden vergebe. Die Momente, in denen ich dann aber zum Beispiel an Straßenmusikern vorbeigehe und doch nichts erübrigen will, blende ich geschickt aus. Steve Ayan erläutert, warum diese Manöver des Gehirns nötig sind, um ein möglichst widerspruchsfreies Selbstbild zu erhalten.

Ich lese „Ich und andere Irrtümer“ gerade zum zweiten Mal, denn mir persönlich hat es (entgegen der Ankündigung des Autors) nun doch schon einiges über mich und mein Umfeld klar gemacht. Zwar ist das Buch nicht geeignet um danach zu perfekter Selbsterkenntnis zu kommen und sich intensiv zu reflektieren. Es ist aber geeignet, um zu verstehen, warum wir selbst und unsere Umwelt manche Überzeugung einfach nicht über Bord werfen wollen oder können. Das hilft auch manche Konflikte etwas gelassener zu sehen. Wir alle wissen es ja schlicht nicht besser.

Vor allem die vielen Beweise dafür, dass wir selbst uns gar nicht so gut kennen (können) wie wir glauben, sind einerseits unheimlich spannend, andererseits auch irgendwie entlastend: sich auch über sich selbst zu irren ist menschlich.
Steve Ayan beschreibt dafür unzählige Beispiele, in denen man sich doch wiederfindet und Experimente, die anschaulich erklären, wie diese „Selbsterkenntnis“ denn nun funktioniert. Es geht darum, wie verzerrt unser Selbstbild ist, wie Selbstbewusstsein überhaupt entsteht und wo dies alles seine Grenzen hat.

Auch andere psychologische Konzepte, die damit eng in Verbindung stehen, werden erläutert: selbsterfüllende Prophezeiung und Selbstwirksamkeit werden interessant erklärt. Und überall wird klar, Selbsterkenntnis ist mehr oder weniger eine Illusion.

Und mein Fazit? Ich bin wahrscheinlich großzügig, wenn auch vielleicht nicht so sehr, wie ich gern glauben möchte. Aber um mir ganz sicher zu sein, sollte ich wohl sowieso jemand anderen fragen, denn die Anderen kennen uns manchmal besser als wir selbst. Und bei aller Küchenpsychologie sollte man die Selbstreflexion nicht zu ernst nehmen.

„Ich und andere Irrtümer“ von Steve Ayan, erschienen im Klett-Cotta Verlag, 303 Seiten

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