Rezension: Der steinerne Engel von Margaret Laurence


Hagar Shipley ist über neunzig und ein zäher Knochen. Zwar schwinden auch ihr langsam die Kräfte, aber Hagars Wille ist ungebrochen. Ihr Sohn Marvin und dessen Frau Doris betreuen und pflegen die alte Dame, sind aber selbst nicht mehr die Jüngsten und träumen von einem unbeschwerten Leben zu Zweit. Also soll Hagar – jaja, der besseren Pflege wegen und so – in ein Altersheim.

Beinahe täglich reden Marvin und Doris mit Engelszungen auf Hagar ein. Sie machen ihr das Heim “Silberfaden” mit allen Mitteln schmackhaft.

“Und die alten Leutchen versammeln sich so gerne hier vor dem Kamin. Manchmal rösten wir sogar Marshmallows.”
Ich röste dich auch gleich, du falscher Fuffziger.

Bis Hagar genug hat und verschwindet.

Kennst du das Buch vom Hundertjährigen, der aus dem Fenster kletterte und verschwand? Ja? So ist Hagar Shipley nicht.
Aber ein paar Parallelen gibt es doch: im Laufe der Erzählung wechseln wir immer zwischen der rebellischen Seniorin in der Gegenwart und Rückblicken auf Hagars bewegten Lebensweg. Und schlussendlich… haut Hagar ab.
Anders als beim “Hundertjährigen” ist unsere Protagonistin zwar auch manchmal ziemlich bissig böse, aber niemals albern. Außerdem ist Hagar nicht unbedingt charmant und sympathisch. Sie ist eitel, hat hohe Ansprüche an sich und ihre Umwelt und fühlt sich zu Höherem geboren. Gleichzeitig ist sie aber auch eine rationale Figur, sich ihrer eigenen Stärken und Schwächen bewusst.

Zwischenzeitlich habe ich mit der Lektüre sehr gekämpft. Der Erzählstrang in der Gegenwart ist wesentlich konfliktreicher und spannender. Er ist auch linearer erzählt und gibt eine klare Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen wieder.
Die Rückblicke in Hagars Vergangenheit waren dagegen manchmal ein bisschen ziellos und plaudernd. Haben sich zum Teil auch wirklich zäh gezogen. Aber ganz zum Schluss ergibt das alles ein schlüssiges Bild. Wir haben eine Figur in ihrem ganz eigenen Tempo kennengelernt.

Zuerst erschien “Der steinerne Engel” 1964 und wurde 1988 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Jetzt, 32 Jahre später, liegt es jetzt in einer Neuübersetzung von Monika Baark vor. Ziemlich passend, denn Kanada ist 2020 Gastland der Frankfurter Buchmesse und Margaret Laurence eine der bekanntesten kanadischen Autorinnen. Stilistisch empfand ich die neue Übersetzung übrigens als sehr gelungen. Man hört dem Text an, dass er nicht mehr ganz neu ist, aber der Staub wurde ein bisschen abgeklopft und er lässt sich wunderbar lesen. Das hat mir richtig gut gefallen.

Der Roman endet bedrückend, wirr und ein wenig trostlos. Irgendwie war ich dann froh Hagar gehen zu lassen, auch wenn das Ende wirklich traurig war. Nun, das ist der Lauf der Welt.
Insgesamt eine ungewöhnliche Lektüre, vor allem wegen der eigenwilligen Figur. Ich glaube das ist die richtige Geschichte für geduldige Leser*innen, die ein Herz für schrullige Figuren haben. Man stellt sich zwangsläufig Fragen nach der Endlichkeit des Lebens und den kleinen und großen Entscheidungen, die die eigene Biografie prägten. Bei Hagar ist es immer wieder das Bauchgefühl, das ihr Glück aber auch ziemliches Elend bereitet. So heiratet sie einen Mann, den sie eigentlich kaum liebt und fast nicht mal mag. Trotzdem kämpft sie erst lange Jahre an seiner Seite, um ihn dann, ebenfalls von einem Gefühl geleitet, zu verlassen und ihren eigenen Weg zu gehen.

Ob es da um die biblische Hagar ginge, fragte mich übrigens eine Followerin. Ich hab mal ein bisschen recherchiert und tatsächlich gibt es da einige Verbindungen der Romanfigur zu ihrem biblischen Vorbild. Die christliche Hagar ist ein Beispiel dafür, wie der jüngere Sohn dem Erstgeborenen vorgezogen wird (das ist so ähnlich wie bei Kain und Abel). Auch die Hagar im Roman hat eine viel innigere, aber auch tragischere Bindung zu ihrem jüngeren Sohn als zu ihrem Erstgeborenen.
Außerdem ist Hagar die zweite Frau von Abraham. Die Hagar aus “Der steinerne Engel” war für ihren (deutlich älteren und ein bisschen muffigen) Mann auch die zweite, und wesentlich kompliziertere, Ehefrau.

P.S. Hagar bedeutet “die Schöne” aber auch “die Flüchtige”, das passt doch irgendwie ;).

 

„Der steinerne Engel“ von Margaret Laurence, übersetzt von Monika Baark, erschienen im Eisele Verlag, 349 Seiten

2 Comments

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  1. 1
    Carina

    Liebe Alexandra, ich habe das circa 2002 in Kanada in der Schule gelesen und weiß noch, dass ich es ungewöhnlich fand. Zu den Aufgaben dazu gehörte unter anderem ein Projekt, bei dem jeder Schüler ein Kunstwerk oder Musikstück und ein weiteres Buch vorstellte. Bei mir waren das „Sunday Bloody Sunday“ und „Die Asche meiner Mutter“. Danke für die Erinnerung daran und die Aufklärung zum Namen Hagar.

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