Ich kann das nicht mehr übersehen


Ich weiß nicht woran es liegt, aber mittlerweile fällt es mir schwer Bücher zur Erholung zu lesen. Oft wenn ich denke, dass ich doch jetzt mal ein Buch vor mir habe, das mich herrlich entspannen und in eine andere Welt eintauchen lässt, werde ich geboxt. Natürlich werde ich nicht physisch geboxt, aber manchmal fühlt es sich wirklich so ähnlich an.

In dieser Woche habe ich “Miss Bensons Reise” von Rachel Joyce gelesen und mich auf den ersten Seiten schwer in die Geschichte verliebt. Als Margery ein Kind ist, sieht sie in einem der Bücher ihres Vaters die Zeichnung eines sagenumwobenen, noch unentdeckten goldenen Käfers. Sie ist fasziniert von seinem Anblick und möchte ihn eines Tages finden.

“Als Margery zehn war, verliebte sie sich in einen Käfer.”

Mit 47 Jahren macht sie sich dann tatsächlich auf den Weg. Eine Frau, die auf der Suche nach einem goldenen Käfer ist, dafür ihr Leben über den Haufen wirft und gemeinsam mit einer Assistentin auf eine kleine Südseeinsel reist. Dieses Buch hätte wirklich alles haben können. Eine echte Heldinnenreise: weibliche Charaktere, die ein ungewöhnliches Abenteuer erleben. Ich war voll dabei!

Und ziemlich lange, habe ich das Buch auch ziemlich unkritisch gelesen. Aber irgendwann konnte ich die Klischees und Diskriminierungen nicht mehr übersehen.

Zunächst sind es scheinbar Kleinigkeiten. Aber dann häuft sich Klischee auf Klischee auf Klischee. Stück für Stück bekam ich das Gefühl “Hier bist du eigentlich nicht erwünscht!”. Erholung in dieser Geschichte kann scheinbar nur eine eng definierte “Norm” finden, die in ihren Vorurteilen und Erwartungen bestätigt wird.

Achtung! Da ich hier sehr konkret auf einzelne problematische Teile der Handlung eingehen möchte, kann ich das nicht machen ohne in einigen Punkten Aspekte der Handlung zu verraten.

1) Die große und dicke Miss Benson wird immer weniger weiblich und attraktiv als ihre kleine und schlanke Begleiterin beschrieben. Natürlich ist sie nicht anziehend, hatte nie eine Beziehung, das Übliche.

2) Im Verlauf der Geschichte nimmt sie ab. Das passiert unter Anstrengungen und großen Schmerzen, wird aber trotzdem gefeiert. Schließlich merkt sie endlich, dass sie doch attraktiv ist. Na so ein Glück.

3) Margerys Assistentin schreibt ihr, um sich für die Expedition zu bewerben. Dabei schreibt sie furchtbar falsch, der Text strotzt vor Rechtschreibfehlern und soll natürlich belächelt werden. Wie ließe sich leichter zeigen, dass wir da ein “Dummchen” vor uns haben?

4) Natürlich ist die Assistentin dafür eine kleine schlanke Sexbombe. Wer gewettet hat: ja, sie ist blond (gefärbt). Eine Randnotiz, dass sie nicht weiß wer der Vater ihres Kindes ist und viele Probleme damit löst sich Männern an den Hals zu werfen.

5) Die Assistentin wird für eine Mörderin gehalten. Diese düstere Befürchtung löst sich aber so ziemlich in Wohlgefallen auf, als klar wird, dass sie “nur” ihren Ehemann getötet hat. Dieser war kriegsversehrt: er hatte bei der Ausbildung beide Beine verloren und wollte sich gerade sowieso umbringen. Macht dann ja nichts?! Ach, außerdem war er schwul. Warum das relevant ist, weiß wohl nur die Autorin.

 6) Der Ausruf “ich bin nicht körperbehindert” wird als empörte Reaktion genutzt, um eine Herabwürdigung zurückzuweisen. Eigentlich möchte die Figur in diesem Moment nur klar machen, dass sie Auto fahren kann. Aber warum sagt sie das dann nicht einfach? Notiz am Rande: ich bin körperbehindert und fahre Auto. Was nun? Außerdem wird das Wort “Krüppel” mehrmals im negativen Kontext genutzt. Seufz.

7) Das höchste Glück für eine Frau ist es ein Baby zu bekommen. Das ist der Sinn des Lebens, keine Diskussion. Sofort wird Margerys Leidenschaft hintangestellt, denn natürlich kann auch nicht beides parallel existieren.

8) Eine Figur mit psychischen Problemen wird quasi als Schreckgespenst der Geschichte genutzt. Es handelt sich ebenfalls um einen Kriegsheimkehrer. Dieser scheint (von seiner Beschreibung her) unter einer Posttraumatischen Belastung zu leiden. Seine ganze Beschreibung ist aber derart düster und verschlagen, dass man ihn kaum als Mensch wahrnimmt. Er verfolgt die Hauptfiguren und wird gewalttätig. Wozu genau es ihn in der Geschichte braucht wird trotzdem schwer klar.

9) Als Setting wurde eine Südseeinsel gewählt, deren Einwohner im Laufe der Kolonialgeschichte gewaltsam enteignet wurden. Ein bisschen Kolonialkitsch (die obligatorischen weißen Damen des Konsulats geben Teepartys und Bastelnachmittage) darf natürlich trotzdem nicht fehlen. Vielleicht wäre ein fiktiver Ort weniger belastet gewesen und hätte mehr Freiheiten gelassen. Die Darstellung der Bewohner der Insel erfolgt außerdem nur am Rande. Sie freuen sich von den weißen Frauen Kaugummis geschenkt zu bekommen und scheinen herzensgute “Wilde” repräsentieren zu sollen. Im Gegensatz zu den weißen Figuren hat keiner von ihnen wirklich einen Namen oder wird als Individuum aktiv.

Es geht mir hier nicht darum, dieses spezielle Buch zu “zerreißen”. Und vermutlich fallen vielen Leser*innen diese und ähnliche problematische Erzählmuster nicht einmal auf. Aber genau dass ist das Traurige daran: auch Menschen, die eben nicht der Norm entsprechen haben Lust auf Unterhaltung und Ablenkung. Wir wollen nicht ständig herabgewürdigt und lächerlich gemacht werden, sondern ein normaler Teil der Geschichte sein.

Es wären keine großen Anpassungen nötig gewesen, dann hätte diese Geschichte eine über Willensstärke und Motivation sein können. Über den Mut loszugehen, auch wenn man lang gehadert hat. Wie schön hätte das sein können?!

 

“Miss Bensons Reise” von Rachel Joyce, übersetzt von Maria Andreas, erschienen im Fischer Verlag, 480 Seiten

Jetzt ein Kaffee, das wär schön…

4 Comments

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  1. 1
    Muriel

    Vielen Dank für diesen Beitrag! Geht mir zuletzt auch immer öfter so, und ich finds einerseits gut so, aber umso schlimmer, wie viele potentiell gute Geschichten von ihren Autor*innen so verhunzt werden, und wie viele einfach rundum schlimme Geschichten trotzdem Bestseller werden.

  2. 3
    Mikka

    Hallo Alexandra,

    oje, oje, oje…

    Als dicke körperbehinderte Frau bin ich bei diesem Buch also mit ziemlicher Sicherheit fehl am Platz – außer ich will was gegen meinen niedrigen Blutdruck tun. Ich hasse es, wenn „behindert“ und „Krüppel“ und Ähnliches als Schimpfwörter oder Herabwürdigungen benutzt werden. Ich bin normal wirklich niemand, der auf Streit aus ist, aber da kann ich biestig werden…

    LG,
    Mikka

  3. 4
    Neyasha

    Uff, das klingt alles ziemlich ärgerlich. Danke für diese ausführliche Besprechung. Da ich „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ bis auf einige Abstriche gern mochte und die Beschreibung dieses neuen Romans von Rachel Joyce nett klang, hätte ich das Buch wohl auf meine Wunschliste gesetzt. Jetzt ist mir die Lust darauf definitiv vergangen.

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