Vielleicht passiert ein Wunder


Bücher über Figuren mit Behinderungen haben erstaunlich oft irgendwas mit “Wunder” im Titel. Ich muss vermutlich kaum erwähnen, dass sie dann auch häufig einen gewissen Hang zum Kitsch haben. “Vielleicht passiert ein Wunder” von Sara Barnard reiht sich jedoch nur scheinbar in diese Art von Büchern ein.
Im englischen Original heißt der Roman deutlich poetischer “A Quiet Kind Of Thunder”. Das beschreibt nicht nur einen ganz besonderen Aspekt der Handlung besser, es hat auch nicht diesen Duft nach Behinderungs-Wunder-Kitsch-Literatur.

Denn in diese Kategorie gehört “Vielleicht passiert ein Wunder” wirklich nicht. Vielmehr ist es einer der schönsten inklusiven Jugendromane, die ich kenne.

Worum geht’s?

Steffi, die Hauptfigur des Romans, ist 16 und hat Mutismus. Das ist eine psychische Erkrankung, die es ihr unheimlich schwer macht mit fremden Menschen zu sprechen. Man kann sich das vielleicht wie extreme Schüchternheit vorstellen. In der Schule hat sie daher hauptsächlich mit ihrer besten Freundin Kontakt. Bis Rhys an ihre Schule kommt. Er ist ebenfalls 16 und gehörlos. Weil Steffi die Gebärdensprache beherrscht, lernen sich die beiden recht schnell kennen und kommen sich ziemlich nah.

Was ist besonders?

Ich habe mich fast zwei Jahre gesträubt dieses Buch zu lesen. Hätte ich es nur früher zur Hand genommen! Es ist so ein wunderschöner, süßer, einfach wohltuender Roman.

Klar, über die Grundprämisse der Handlung lässt sich streiten: warum müssen ausgerechnet die beiden behinderten bzw. psychisch kranken Teenager miteinander eine Beziehung eingehen? Aber die Umsetzung dessen ist wirklich gelungen.
Und: je mehr Romane mit gelungener Repräsentation von behinderten Menschen wir lesen, desto mehr Raum ist auch für Varianten. Dann sollten wir von Pärchen lesen bei denen nur ein Part eine Behinderung hat. Oder beide die selbe Behinderung. Oder einige Partner*innen bei poly Beziehungen behindert sind. Oder eben beide unterschiedliche Behinderungen haben. Wir brauchen all diese Varianten. Einfach weil es auch all diese Varianten im echten Leben gibt. (Thank you, for coming to my TED Talk)

Zurück zum Roman

Dieser Jugendroman ist jedenfalls so besonders, weil er ganz viel richtig macht.

Es gibt keine toxischen Erzählmuster über irgendwelche Bad Boys, denen die Hauptfigur verfällt. Es gibt auch keine großen Dramen. Die Protagonisten sind schließlich erst 16, die erste Liebe und die Suche nach dem richtigen Studienplatz ist Drama genug, wirklich!
Ihre beschriebene Beziehung ist irgendwie nahbar, nett und alltäglich. Der Roman erzählt von jugendlichen Unsicherheiten, vom ersten Kennenlernen mit den Eltern der*des Auserwählten und dem Streit mit Freund*innen.

Überrascht hat mich die Beziehung der beiden Hauptfiguren. Es gibt Konflikte, die aber offen kommuniziert werden. Ebenso offen stellt Steffi dar, dass sie von ihrem Freund nicht beschützt werden muss und möchte (yeah!). Diese Entwicklung von zwei unabhängigen Hauptfiguren hat mich begeistert. Sie müssen sich nicht gegenseitig retten oder heilen, sondern jede*r für sich mit eigenen Problemen umgehen lernen. Ist das nicht herrlich unkitschig?

Neben den Hauptfiguren bestechen übrigens auch die übrigen Protagonist*innen mit einer spannenden Bandbreite. Es gibt zum Beispiel coole PoC Charaktere und Kinder, die nicht den üblichen Rollenerwartungen entsprechen. Das stellt eine moderne Gesellschaft dar und liest sich völlig ungezwungen. Für meinen Geschmack werden hier auch nicht lediglich irgendwelche Token bedient, sondern den Figuren eine glaubhafte Hintergrundgeschichte gegeben.

Super positiv aufgefallen ist mir auch die Sexszene im Roman. Sie ist sehr liebevoll und ein bisschen unbeholfen beschrieben. Und es gibt Verhütung! Keine krassen Schilderungen, die unrealistische Erwartungen wecken. Im Gegenteil, auch dass das erste Mal vielleicht kein so großes Feuerwerk werden muss, wird angesprochen.

Gibts denn nun ein Wunder?

Ich habe lange über das Wunder nachgedacht, das in der deutschen Übersetzung so zentral zu sein scheint. Erst nach einer Weile ist mir klar geworden: der Roman erzählt die Coming-of-Age Geschichte von Figuren mit psychischer Erkrankung bzw. Behinderung. Natürlich lernen daher beide im Verlauf der Handlung auch auf unterschiedliche Art mit ihrer Behinderung umzugehen. Für behinderte Jugendliche ist das einfach eine der Herausforderungen, die das Leben so mit sich bringt.

Geheilt werden beide nicht. Ja, im Fall von Steffi wird eine Szene geschildert, in der sie in der größten Not “über sich hinauswächst” und trotz des Mutismus spricht. Aber es wird eben auch dargestellt, dass das für sie unheimlich anstrengend und nicht die Regel ist. Außerdem hat sie auch vorher schon vereinzelt gesprochen. Wegen dieser Szene ist sie also nicht plötzlich geheilt. Das ist auch nicht ihr Ziel. Vielmehr haben sie und ihre Familie, gelernt, dass sie auch in schwierigen Phasen mit ihrer Erkrankung zurechtkommen wird.

Fazit?

Ein nieclicher und romantischer Jugendroman, der mich absolut überrascht hat. Jugendliche mit Behinderungen finden sich noch viel zu selten in Hauptrollen, hier ist ihre Repräsentation wirklich gelungen. Außerdem ist er erzählerisch durch eingeschobene Chats nett aufgelockert und macht einfach Spaß.

Toll war für mich übrigens auch die Danksagung der Autorin. Darin verweist sie auf gehörlose Menschen, die sie bei der Umsetzung des Romans unter anderem damit unterstützt haben, sie über die Kultur und Sprache von gehörlosen Menschen aufzuklären. Gerade diesen kulturellen Aspekt von Behinderung vernachlässigen Autor*innen noch zu oft. Schön, dass er hier zur Geltung kommt!

 

„Vielleicht passiert ein Wunder“ von Sara Barnard, übersetzt von Ilse Layer, erschienen im Fischer Verlag, 416 Seiten, ab 12 Jahren. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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