Rezension: Kleine große Schritte von Jodi Picoult


In der harmlosen, blumigen Schale von “Kleine große Schritte” von Jodi Picoult steckt eine ebenso harte wie bewegende Geschichte. Es geht um einen Säugling, der nach einem Routineeingriff im Krankenhaus stirbt und um die Schuldfrage bei diesem Tod. Ist die schwarze Krankenschwester, die auf Wunsch der rechtsradikalen Eltern das Kind nicht behandeln durfte, für die Tragödie verantwortlich? In diesem Buch geht es um alltäglichen Rassismus aber auch um Werte wie Mitgefühl und Nächstenliebe.

Vor der Lektüre der Geschichte sollte man das Nachwort der Autorin zu diesem Buch lesen. Im Leseexemplar war es passenderweise vorangestellt und obwohl diese Zeilen nun ans Ende des Buches verbannt wurden, geben sie doch einen tollen Eindruck von der Problematik dieses Buches. Eine weiße Autorin, die nie unter Rassismus zu leiden hatte, schreibt eine Geschichte aus Sicht einer schwarzen Krankenschwester. Sie schreibt über strukturelle Benachteiligung, ohne diese je erlebt zu haben. Außerdem weiß sie, dass auch ihre privilegierte Position das Ergebnis von Rassismus ist. Auch wenn sie selbst es nicht möchte, sich als tolerant und weltoffen versteht, ist sie Teil der Unterdrückung. Das klingt krass? Ist es auch. Darf sie trotzdem darüber schreiben? Jodi Picoult stellt sich selbst all diese Fragen, erklärt aber wunderbar, warum sie eben trotzdem genau darüber schreiben musste. Und es gelingt ihr tatsächlich.
Natürlich kann ich nicht einschätzen, wie authentisch das Ergebnis ausgefallen ist. Schließlich habe ich das selbe Problem wie die Autorin, doch mir scheinen ihre Darstellungen gelungen.

In wechselnden Kapiteln stellt Jodi Picoult die extremen Positionen gegenüber: die schwarze Krankenschwester, die durch die Geschehnisse völlig aus der Bahn geworfen wird, und der nationalsozialistische weiße Vater des Kindes, ebenfalls durcheinander aber auch voll Hass. Beide Hauptfiguren werden zwar mit Stärken und Schwächen dargestellt, wirken aber beinahe ein wenig zu extrem und ihre Entwicklungen zu krass, um völlig authentisch zu sein. Als dritte, besondere Perspektive wird die (ebenfalls weiße) Rechtsanwältin der angeklagten Krankenschwester dargestellt. Sie zeigt die Unterschiede zur rechtsradikalen Familie besonders deutlich. Die Anwältin ist wirklich bemüht, tappt aber doch auch immer wieder in die Falle rassistischer Denkweisen. Eine schöne Methode, um auch dem Leser den Spiegel vorzuhalten.

Apropos krass: an manchen Stellen ist “Kleine große Schritte” nichts für zartbesaitete Leseratten. Das Setting thematisiert automatisch auch Krankheit und Tod von Neugeborenen. Logisch, dass da nicht alles eitel Sonnenschein ist. Durch die Verbindung zwei so emotionaler Themen ist “Kleine große Schritte” manchmal keine leichte Kost, aber eben auch unglaublich bewegend und berührend.

Aber gerade damit hat mich Jodi Picoult mal wieder gefangen. Ihre Themenvielfalt und das Einfühlungsvermögen, mit dem sie verschiedenste Problemfelder beschreibt, haben mich einfach gepackt. Vielleicht sind manche Entwicklungen zu unrealistisch oder manche Figuren doch an einigen Stellen klischeebehaftet, aber ihre Geschichten gehen ins Herz und schwingen da noch eine ganze Weile nach.

“Kleine große Schritte” von Jodi Picoult, übersetzt von Elfriede Peschel, erschienen im C. Bertelsmann Verlag, 593 Seiten, 20,00 € (Hardcover)

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