Ich habe keine Löffel mehr


Manchmal sage ich, dass ich “keine Löffel mehr” für irgendetwas habe und werde irritiert angesehen. Was haben denn Löffel damit zu tun, dass ich gerade nicht ins Kino möchte? Oder wozu brauche ich Löffel, wenn ich eigentlich nur einen Text überarbeiten soll?

Die Basics

Es gibt Behinderungen, die sind sofort sichtbar. Andere können kaum oder gar nicht zu sehen sein. Soweit sollte das eigentlich allen klar sein.

Vor allem Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen, chronischen oder psychischen Krankheiten kämpfen trotzdem ständig gegen die Vorurteile und das Unverständnis ihrer Umgebung. Wenn sie wegen Schmerz oder Überforderung häufiger Pausen brauchen, gelten sie schnell als faul. Wenn sie es nicht schaffen zu einer Party zu kommen, wirken sie unnahbar oder ungesellig.

Aber selbst mit einer sichtbaren Behinderung erlebt man diese Situationen, die immer wieder zu Missverständnissen führen.
Einfach weil es Aspekte einer Behinderung gibt, die Außenstehenden wahnsinnig schwer zu vermitteln sind.

Die Löffel sind ein Erklärungsansatz dafür.

Was ist die Löffeltheorie?

Die sogenannte Löffeltheorie beziehungsweise „Spoon-Theory“ stammt von der US-Amerikanischen Bloggerin Christine Miserandino. Sie veröffentlichte die Theorie erstmals im Jahr 2003 auf ihrem Blog.

Christine Miserandino selbst hat Lupus und Fibromyalgie, zwei Krankheiten, die ziemlich viel Energie rauben. Um ihrer Freundin das Leben mit diesen Krankheiten zu erklären, nutzte sie die Löffelmetapher.

Das Leben mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung sei, so sagt sie, als würde man eine bestimmte Menge Löffel in den Händen halten.

Die Löffel symbolisieren dabei die eigenen Energieressourcen. Sie stehen aber auch für die Notwendigkeit zu planen, immer wieder Entscheidungen zu treffen, eben mit den eigenen Kräften zu jonglieren.

Wir können nicht unendlich viele Löffel in unseren Händen halten. Und für jede Tätigkeit, die Energie kostet, müssen wir Löffel weglegen. Bis irgendwann keine mehr da sind.

Denn alles kostet Löffel

Wir Menschen mit Behinderungen müssen mehr tun, um unseren Alltag zu bewältigen. Wir müssen mehr organisieren, mehr planen, mehr entscheiden und mehr aushalten. Das kostet Kraft.

Für teils banal wirkende Dinge müssen Menschen mit Behinderungen Energie aufwenden. Also metaphorisch gedacht einen Löffel ausgeben. Die Löffel sind dabei oft schneller aufgebraucht als uns lieb ist.

Morgens aus dem Bett aufstehen, wenn mein Rücken eigentlich sowieso schon schmerzt? Das kostet ordentlich Löffel.

Mich anziehen und fertig machen, kostet zum Glück nur wenige Löffel.
Aber Make-Up? Manchmal kriege ich die Arme kaum hoch, dann lieber nicht. Zu viele unnötige Löffel.

Zum Frühstück nehme ich mir einen Müsliriegel, das spart Löffel.

Der Weg zur Arbeit? Uff, der kostet viele Löffel.

Für Termine kreuz und quer durchs Haus oder übers Gelände? Viele kleine Löffel.

In der Mittagspause mit Kolleg*innen in die Stadt? Viel zu viele Löffel. Ich bleibe in der langweiligen Kantine.

Bis ich nach einem normalen Arbeitstag nach Hause komme, habe ich schon jede Menge Löffel verbraucht. Dann schaue ich auf die kläglichen Reste in meiner Hand an und muss wirklich überlegen.

An die Reserven gehen

Immer wieder klaue ich mir Reservelöffel. Nutze Energie, die ich eigentlich gar nicht habe. Ich gehe nach der Arbeit doch noch etwas Essen oder sogar ins Kino. Ich stecke Energie in meine Hobbys und versuche “dran zu bleiben”.
Die Rechnung folgt. Immer.

In den nächsten Tag starte ich mit weniger Kraft.

Das kann sich bei mir persönlich im normalen Rahmen bewegen. Ein einfaches “ich bin müde, es war ein langer Tag”, das alle kennen. Aber oft kommen doch noch Schmerzen dazu. Dann ist schon sitzen wirklich anstrengend und ich habe einen Tag vor mir, der wieder viel reduzierter funktionieren muss.

Mithalten wollen, oder doch nicht?

Lange Zeit habe ich mir eingeredet, dass ich “alles” irgendwie schaffen muss. Dass ich mit Menschen ohne Behinderungen komplett und immer mithalten können muss.

Es ist nicht eben angenehm sich einzugestehen, dass das nicht geht. Aber weißt du was? Es tut gut.

Als ich das erste Mal von der Löffel-Theorie gehört habe, hat mich das unheimlich erleichtert. Es hat mir bewusst gemacht, dass ich nicht schwach und faul bin, sondern unter Bedingungen lebe, die Energie kosten.

Man unterschätzt zum Beispiel leicht, wie kraftraubend und anstrengend Schmerzen sind. Es geht nicht darum, sich den ganzen Tag in Schmerzen zu winden. Sondern darum manchmal von der Kontinuität der Schmerzen überfordert zu sein.

Löffel geklaut bekommen…

Aber nicht nur körperliche Symptome kosten Kraft.

Menschen mit Behinderungen müssen in einer Umwelt zurechtkommen, die sie nicht mitdenkt und beachtet. Wir bekommen Löffel “geklaut”, weil wir zum Teil für Selbstverständlichkeiten wahnsinnig viel Energie investieren müssen.

Wenn ich zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel nutzen möchte, muss ich recherchieren, Ausweichrouten und Zeitpuffer planen.
Kommt ein falscher Wagen-Typ unserer Frankfurter Straßenbahn hab ich kaum eine Chance auf einen Platz. Mehr als ein Mal habe ich, zu Hause angekommen, geweint, weil die Tour dann komplett über meine Kräfte ging.

Übrigens gibt es nicht für alles einfache Lösungen. Auch wenn ich mit dem eigenen Auto fahre, muss ich recherchieren, planen und entscheiden. Ob und wo gibt es Rollstuhlparkplätze? Existiert in einer Tiefgarage ein Aufzug und versperren mir Feuerschutztüren den Weg dahin vielleicht doch wieder? Löffel, Löffel, Löffel!

Das ist alles nicht todtraurig und bemitleidenswert gemeint, aber als Tatsache, die man schwer erklären kann. Jeder dieser Fakten kostet einen Löffel. In meine Hände passen nicht unendlich viele Löffel. Es wird eng!

…und Löffel sparen.

Es gibt aber auch Umstände (und Menschen) die mir helfen Löffel zu sparen. Dabei geht es explizit nicht darum mir alle Arbeit abnehmen zu lassen. Sondern darum Verständnis zu haben und Bedingungen zu akzeptieren bzw. zu schaffen, die mir keine zusätzliche Kraft rauben.

Ich habe zum Glück ein Umfeld, das keine Kommentare abgibt, wenn ich mich mal zurückziehe. Mein Mann übernimmt viel für mich, damit ich Pausen habe (und Löffel für schöne Dinge investieren kann). Eine Situation für die ich echt dankbar bin.

Aber auch organisatorische Dinge können sehr helfen.

So kann ich zum Beispiel meine Arbeit grundsätzlich auch aus dem Homeoffice erledigen und habe mittlerweile auch den Platz dafür.
Ich spare mir den Weg zur Arbeit, kann in der Mittagspause leichter Energie tanken und habe viel flexibler Feierabend. Toll, dass das immer besser möglich ist. Mann kann so viele Löffel damit sparen.

Und über die Teilhabe durch digitale Events habe ich schon mal hier geschrieben.

Was ich mir wünsche

Okay und was wünsche ich mir nun? Warum schreibe ich das alles?

Von den Spoonies (das sind die, die mit Löffeln jonglieren)

Wenn du dich hier angesprochen fühlst: du bist nicht allein! Ich wünsche mir für dich, dass du Verständnis für dich hast und nett zu dir bist.

Ich habe jahrelang versucht “mitzuhalten”. Ja, das hat manchmal ganz gut geklappt, aber der Preis war oft hoch.

Jetzt freue ich mich über die Sachen, die ich erreiche, und setze meine Löffel bewusst ein. Dazu zählt es auch manchmal bei Dingen einen Schritt zurückzutreten. Es lohnt sich!

Und von an allen anderen?

Es gibt Situationen, da ist es für Außenstehende wohl schwer nachzuvollziehen, warum ein Mensch eine bestimmte Situation “nicht mehr schafft”. Habt bitte trotzdem Verständnis dafür.

Wenn in eurem Umfeld Spoonies bei sozialen Events ziemlich früh gehen oder manchmal auch gar nicht dabei sind, äußert nicht euren Unmut darüber. Ladet sie einfach trotzdem mal wieder ein. Weil Dinge manchmal zu viele Löffel rauben, auch wenn man Lust darauf hätte. Das heißt nicht, dass wir nicht mehr dabei sein wollen.

Vielleicht können wir es schaffen, dass Menschen, die nicht so gründlich auf ihre Löffelschublade achten müssen, trotzdem im Blick behalten wie viele Löffel so ein Leben kosten kann.

 

P.S. Natürlich müssen auch Menschen ohne Behinderungen und chronische beziehungsweise psychische Krankheiten Entscheidungen treffen. Auch sie können nicht ALLES schaffen, was sie sich vornehmen. Das ist mir bewusst.
Aber sie unterliegen nicht dieser engen Begrenzung ihrer Ressourcen, können großzügiger von anderen Tagen “klauen” und müssen ihre Kraft nicht für Nichtigkeiten einsetzen.

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Tolle Artikel zum Thema gibt es auch auf folgenden Seiten:
Kleinerdrei: Von Löffeln und #chroniclife – Leben mit chronischen Schmerzen
Schmerzensangelegenheiten: Die Löffeltheorie
Autistenbloggen: Aber du siehst gar nicht krank aus?
Raul Krauthausen: 6 Dinge die man wissen sollte, wie es ist mit einer Behinderung zu leben
Vdk: Spoontheory

2 Comments

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  1. 1
    Andreas Bühne

    Ich bin gerade erst auf diesen Text gestoßen. Eine sehr schöne Beschreibung … die vermutlich aber viele Menschen erst wirklich nachvollziehen können, wenn es sie mal für einen längeren Zeitraum aus der Norm-Gesellschaft gehauen hat. Augen zu und durch war auch mein Ansatz — bis ich begriffen habe, das vieles von dem was ich tat und die Art wie ich es getan habe, mich dahin gebracht habe wo ich stehe – oder im Moment halt eher sitze.

  2. 2
    Ralf

    Was für ein inspirierender Text. Ich habe mit meinen Behinderungen (jetzt GdB 100) jahrelang versucht mitzuhalten, wie jemand ohne Behinderung. Aber jetzt im fortgeschrittenen Alter und als noch eine chronisch Erkrankung dazukam, ging es einfach nicht mehr. Jetzt bin ich dabei, mein Zeit auf Arbeit zu reduzieren und endlich zu akzeptieren, dass meine Energievorräte schneller aufgebraucht sind als früher.
    Ich bin mit dem Spruch „Stell dich nicht so an“ in einer Familie aufgewachsen, wo die Eltern noch mit eitrigen Mandeln und Bandscheibenvorfall zur Arbeit gingen. Das prägt.

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