Rezension: Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss von Tara Westover
Wenn ein Buch den Titel „Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss“ trägt, dann schlägt mein Herz gleich ein paar Takte höher. Denn auch wenn ich damit vielleicht nicht die beliebteste Patentante bin, gebe ich nie auf und versuche alle Kinder in meinem Umfeld für Bücher zu begeistern. Ich glaube daran, dass Bildung eines der höchsten Güter ist, dass wir haben, und in Zukunft auch immer wichtiger werden wird.
Zurück zu Tara Westovers Buch: Tara wuchs in den Bergen Idahos bei einer streng mormonischen Familie auf. Wenn ich sage streng, dann meine ich STRENG. Taras Vater ist an einer bipolaren Störung erkrankt und zwingt seiner Familie im Wahn eine extreme Auslegung ihrer Religion auf. Die Kinder der Familie werden nicht eingeschult, bekommen keinerlei ärztliche Versorgung und besitzen zum Teil nicht einmal Geburtsurkunden. Neben dem wahnhaften und kontrollsüchtigen Vater kann sich Taras Mutter kaum behaupten und so leiden die Kinder ungebremst unter seinen Launen.
Dieses Buch hat mich ungemein wütend gemacht.
Ich kann die Wut nicht beschreiben, die ich im ersten Drittel des Buches gegenüber den Eltern der Autorin empfand. Vermutlich ist das nicht ihre Intention, aber die Art und Weise wie die Eltern ihre Kinder von jeglichen Entwicklungsmöglichkeiten fernhalten und sogar aktiv in Gefahr bringen, hat mich unfassbar gegen sie aufgebracht. Im Buch werden eine Reihe von dramatischen Unfällen beschrieben, die Verletzungen der Kinder, aber auch der Mutter, bleiben weitestgehend unbehandelt. Für mich war das Buch in dieser Hinsicht unerwartet harte Lektüre.
Aber auch unabhängig von den religiös geprägten Regeln der Familie ist ihr Zusammenleben geprägt von körperlicher aber vor allem emotionaler Gewalt. Tara wird von ihrem älteren Bruder in einer Form schikaniert, die für mein Empfinden schon stark an Missbrauch grenzt.
Später hat mich das Buch aus anderen Gründen wütend gemacht.
Ich kann verstehen, dass es der Autorin wichtig ist zu zeigen, aus welchen Bedingungen sie kommt. Aber spätestens ab der Mitte des Buches hätte ich mir einen geänderten Fokus gewünscht. Wir erinnern uns: im Untertitel des Buches geht es um Bildung. Was Tara Bildung bedeutet und welche Entwicklungen sie während ihrer persönlichen (wirklich außergewöhnlichen!) schulischen Laufbahn nimmt, kommt aber wirklich viel zu kurz. Tara betritt mit siebzehn Jahren zum ersten Mal eine Schulklasse, wenige Jahre später hat sie sich ein Masterstudium erkämpft. Es gäbe darüber wohl einiges zu berichten!
Stattdessen werden weiterhin reihenweise Unfälle mit teils schlimmsten Verletzungen beschrieben und thematisiert wie diese mit Ringelblumensalbe und guten Worten „behandelt“ wurden.
Ich wurde wütend über diesen Voyeurismus. Als Leser fühle ich mich, als würde ich die Krankenakte der Familie lesen. Stehe hilflos daneben wie sich ein Drama nach dem anderen vor mir entrollt.
Woher zieht Tara die Kraft und den Willen, diesen gewohnten Pfaden aus emotionaler Erpressung und Druck ihrer Eltern zu entkommen? Über ihre inneren Kämpfe spricht die junge Autorin leider nur sehr vereinzelt.
Stoff für Diskussionen
Dieses Buch bietet wirklich Stoff für Diskussionen. Angefangen darüber wie wichtig Bildung für die individuelle Entwicklung von Kindern ist, bis hin zu der Frage, wie man Kinder wirksam vor der Willkür von Eltern bewahren kann, die religiöse Überzeugungen über das Kindeswohl stellen.
Ich würde dieses Buch kein zweites Mal lesen wollen und empfinde es als besonders schwer zu sagen, welche Leser darin wohl das Meiste für sich finden können. Es gibt interessante Einblicke in die Dynamik von dysfunktionalen Familien, ein echtes Buch über Bildung war es jedoch nach meinem Empfinden nicht.
„Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss“ von Tara Westover, übersetzt von Eike Schönfeld, erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, 448 Seiten
Mich hat das Buch auch sehr wütend gemacht und ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, wie brutal es werden würde. Die Grenze zum Missbrauch ist da meiner Ansicht nach auch wirklich überschritten. Ich war auf jeden Fall schockiert. Und ja, die Verletzungen waren mir auch irgendwann zu viel. Das wirkte als hätte die Autorin das noch mal extra betonen wollen, aber daneben kam die Bildung in der Erzählung wirklich etwas zu kurz. Ich hätte mir auch z.B. mehr Informationen darüber gewünscht, wie sie innerhalb von so kurzer Zeit praktisch allein 12 Jahre Schule aufholen konnte.
Ich bin trotzdem froh, es gelesen zu haben und fand es auch auf eine gewisse Art motivierend, aber stimmt, das Thema und die Erwartungen getroffen hat es eigentlich nicht wirklich.
Liebe Jacquy,
Danke für deinen Kommentar! Ich bin total beruhigt, dass da noch jemand meine Argumentation nachvollziehen kann, der das Buch gelesen hat! Ich habe so viele begeisterte Rezensionen bei A*mazon gelesen, dass ich irgendwie dachte, ich bin da vielleicht allein mit meiner Ansicht. Die Thematik ist natürlich total wichtig und ich kann die Euphorie darüber, ein Buch über die Bedeutung von Bildung zu schreiben verstehen (gerade deswegen wollte ich es unbedingt lesen) aber das war es eben nicht.
Und stimmt, wie sie es schafft den Bildungsstand in der kurzen Zeit aufzuholen, ist mir auch nicht ganz klar geworden. Sie hat betont, dass ihr da einige abstrakte mathematische Themen doch Probleme bereiteten und zack, im nächsten Kapitel gings wieder um Verletzungen :-/…
Ich glaube ich werde einfach mal nach „ähnlichen Büchern“ in diese Richtung suchen, denn Geschichten, die den Wert von Bildung verdeutlichen, gibt es sicher genug.
Viele Grüße,
Alexandra