Was bleibt, wenn eine*r fehlt? – Buchbotschaft zu #nachMattias


Welche Leerstellen hinterlässt ein Mensch, wenn er stirbt? Was sind die Erinnerungen, die zurückbleiben? Welche Gegenstände und Momente stoßen uns zurück in diese Erinnerungen?

Bei mir sind es ein Name und eine Nummer in meinem Smartphone, die mich immer wieder ins Herz stechen.

Als ich 15 Jahre alt war starb meine langjährige beste Freundin Kiki, sie war damals 14 Jahre alt. Ich wurde in der Schule lange Zeit gemobbt und auch wenn Kiki weit weg wohnte, war sie in dieser Zeit immer für mich da. Wir haben stundenlang telefoniert, uns dutzende Briefe geschrieben und manchmal auch Mails (das ging damals gerade los).
In der Zeit vor ihrem Tod hatten wir einige Wochen nur wenig Kontakt. Sie war krank, musste immer wieder ins Krankenhaus und war kaum erreichbar. Den Ernst der Situation habe ich damals nicht begriffen. An den Abend, an dem ihre Eltern anriefen und mich über ihren Tod informierten, kann ich mich deshalb auch nur noch bruchstückhaft erinnern. Alles wirkte so unwirklich.

Noch jahrelang konnte ich ihre Telefonnummer auswendig aufsagen. Noch jahrelang hatte ich immer das Bedürfnis sie anzurufen, wenn etwas tolles (oder furchtbares, als Teenie wechselt das ja häufig) passierte. Als ich meinen heutigen Mann kennenlernte, war ich so traurig, dass ich ihr nie mehr von ihm erzählen konnte. Wie toll wäre es gewesen gemeinsam zu schwärmen! Ich bin mir sicher sie würde ihn mögen.

Noch heute schaffe ich es nicht, Kikis Nummer aus meinem Smartphone zu löschen. Das ist die Leerstelle, die mich jedes Mal anschreit, wenn ich diesen Eintrag sehe. Aber zumindest da will ich sie nicht aus meinem Leben tilgen.

Die Lücken sind größer…

Vermutlich hätten sich auch unsere Wege irgendwann getrennt, wie das mit so vielen Jugendfreundschaften passiert. Aber diese Lücke ist größer als das. Da ist kein neugieriges „Was Kiki wohl heute macht?“ sondern ein brennendes „Was sie wohl heute machen wollen würde?“.

Meine Freundin wäre jetzt 30 Jahre alt. Sie ist nun länger tot als sie gelebt hat, diese Erkenntnis hat mich an ihrem letzten Todestag sehr getroffen.

Auch in den letzten Tagen habe ich wieder viel über Kiki nachgedacht. Manche Erinnerungen haben mich nach Jahren unvermittelt eingeholt.

Mir wurde “Nach Mattias” von Peter Zantingh auf der Buchmesse vorgestellt und seitdem habe ich so ein Grummeln im Bauch. Ich wollte dieses Buch sofort lesen und mitmachen; Buchbotschafter sein für diesen spannenden Titel. Und doch war da auch ganz viel Angst.

Wenn es um “Leerstellen” geht, dann denke ich natürlich an meine Freundin, aber soll ich über sie schreiben? Was möchte ich überhaupt von ihr erzählen? Von ihrem unglaublich schwarzen Humor? Von ihrem Talent für filigrane Basteleien, die ich vor Ungeduld schon nach wenigen Minuten schreiend an die Wand werfen wollte? Von ihrer Phantasie oder von ihrer gleichzeitig auch für ihr Alter ziemlich realistischen Sicht auf die Welt?

…und bleiben für immer.

Ich brauchte zwei Anläufe bei der Lektüre, das Buch hat mich so mitgenommen. Nicht, weil es so überragend geschrieben ist oder so wahnsinnig deprimierend. Ist es beides nicht, leider und zum Glück. Sondern weil mich diese Gedanken nicht losgelassen haben.

In „Nach Mattias“ geht es genau um die Leerstellen, die bleiben, wenn ein Mensch viel zu plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Mattias’ Freundin, sein bester Freund, seine Familie, vage Bekannte all sie berichten von den Lücken die Mattias in ihrem Leben hinterlassen hat.
Die Personen im Roman trauern ganz unterschiedlich. Mal ganz offen, mal vergraben unter Aktionismus und “weiter so”. Trotzdem traf mich diese Traurigkeit zu sehr.

Da ist das Bild des letzten Buches, das Mattias gelesen hat. Seine Freundin verliert das Lesezeichen aus den Seiten und ist völlig aufgelöst, weil sie nun nie mehr wissen wird, an welcher Stelle er stehen geblieben war.

Niemand denkt gern über den Tod nach

Zu Beginn des Buches ist völlig unklar was passiert ist. Woran ist Mattias gestorben? Was ist da geschehen? Nur eins ist klar: Mattias ist tot. Die Beschäftigung mit diesem Thema war ganz anders als ich erwartet habe. Nicht schwarz traurig, sondern recht sachlich und mit ganz viel Potenzial zum Nachdenken.
Deshalb sind es heute auch diese Gedanken, die ich hier teilen möchte. Ich mag keine klassische Rezension schreiben, das Buch würde vermutlich nicht einmal wahnsinnig gut dabei abschneiden. Und trotzdem hat es etwas geschafft, was selten gelingt: es hat mich über den Tod nachdenken lassen, mit milder Melancholie aber ohne diese absolute Traurigkeit, die das sonst für mich mit sich bringt.

 

„Nach Mattias“ von Peter Zantingh, übersetzt von Hanni Ehlers, erschienen im Diogenes Verlag, 242 Seiten

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