Rezension: Ich ging in die Dunkelheit von Michelle McNamara


Wir empfinden einen düsteren Schauer, wenn wir True-Crime-Geschichten hören. Diese Faszination für wahre Verbrechen liegt wohl irgendwo zwischen psychologischem Interesse und Voyeurismus. Für mich persönlich ist es der Versuch zu verstehen, was die Täter dazu bringt die Grenzen der Zivilisation zu überschreiten. Die Dimensionen, die der Fall annimmt, den Michelle McNamara in “Ich ging in die Dunkelheit” beschreibt, waren aber für mich vollkommen unfassbar.

Der Original Night Stalker oder East Area Rapist (von Michelle McNamara erhielt er später schließlich den Namen “Golden State Killer”) war von etwa 1976 bis 1986 aktiv. In dieser Zeit vergewaltigte er über 50 Frauen und tötete mindestens 12 Menschen. Die doppelte Namensgebung deutet schon an, dass eine ganze Weile nicht klar war, dass hinter dieser Masse an Fällen der gleiche Täter steckt. Wie ein Schatten schlich er in das Leben seiner Opfer. Plötzlich stand er mitten in der Nacht am Fußende ihrer Betten, blendete sie mit einer Taschenlampe und bescherte ihnen den schlimmsten Alptraum. Niemand schien sicher vor ihm. Er schlug manchmal in wahnsinnig kurzer Folge zu (zwei Fälle ereigneten sich innerhalb von 24 Stunden), zog sich dann wieder monatelang zurück. Er reiste weite Strecken in Kalifornien und schlug dann aber auch in direkt benachbarten Häusern zu. Ein Phantom, das alle und jede*n treffen konnte. Er ging vor wie ein Profi, wurde von Zeugen wurde aber als fast kindlich beschrieben und muss völlig unbescholten gelebt haben.

Bis er 2018 doch endlich gefasst wurde, haben sich im Laufe von über 40 Jahren unzählige Ermittler und Forensiker, aber auch zahlreiche Hobbydetektive die Zähne an diesem Fall ausgebissen. Der Golden State Killer schlich sich in ihre Köpfe und der Wunsch ihn zu fassen, ließ ihnen keine Ruhe. Unter ihnen auch die Journalistin Michelle McNamara. Wie besessen arbeitete sie sich durch die winzigsten Details in den Fallakten, befragte etliche Zeugen und bereiste beinahe alle Tatorte, um “ihm” nachzuspüren.

In ihrem Roman hat sie diese Suche nach dem Golden State Killer aufbereitet, literarisch und mit unzähligen Informationen echter Ermittlungsarbeit. Ungewöhnlich ist jedoch, dass obwohl sich irgendwie alles um diesen Täter dreht, er nicht im Fokus der Erzählung steht. Michelle McNamara berichtet von den letzten Tagen der Opfer, sie erzählt von den Ermittlern und auch von ihrer eigenen Obsession. So erfahren wir auch sehr viel über einen Täter, der in den 70er und 80er Jahren so viele Menschen in Angst versetzte, aber geben ihm nicht wieder zu viel Macht.

Leider erlebte Michelle McNamara die Veröffentlichung ihres Buches nicht mehr. Sie starb viel zu jung im Jahr 2016. Die Kapitel, die sie nicht mehr selbst fertigstellen konnte, wurden aus bereits veröffentlichten Artikeln und ihren Notizen rekonstruiert. Aber die Abschnitte des Romans, die aus ihrer Feder stammen, zeigen wie gut sie erzählen konnte und wie tief sie in diese Dunkelheit hinabgestiegen war.
Es ist unglaublich traurig, dass sie nicht mehr erlebte wie der Golden State Killer im Jahr 2018 endlich gefasst wurde. Ein Ansatz den auch die Autorin bis zu ihrem Tod verfolgte, brachte endlich den entscheidenden Durchbruch.

Manchmal liest sich dieses Buch wirklich schwierig, alles ist “zu viel”: die Grausamkeit oder besser Abgebrühtheit des Täters die überall durchscheint, die Alltäglichkeit mit der das Leben der Opfer beschrieben wird und die Flut von Informationen, die die Autorin in den Text eingearbeitet hat. Die Fakten springen einem förmlich entgegen und manche Abschnitte muss man zwei, drei Mal lesen, um alles zu erfassen. Daran zeigt sich aber auch, wie akribisch Michelle McNamara gearbeitet hat. Es war ihr wichtig besondere, kleine Details für ihre Leser*innen zu präsentieren.

Es gibt schon einige Dokumentationen über den Golden State Killer, aber wenig Literatur zu diesem Verbrechen. Im Hinblick auf die Bedeutung, die der Fall für die amerikanische Kriminalgeschichte, Ermittlungsmethoden und juristische Aspekte hatte, ist das wirklich erstaunlich. Ich glaube aber, es hätte kaum ein besseres Buch zu diesem Thema geben können als “Ich ging in die Dunkelheit”. Durch die Fokussierung auf Ermittler*innen und Opfer des Golden State Killer ist es kein klassischer True-Crime-Roman. Dadurch hat er aber auch viele Probleme nicht, die diesen Büchern oft innewohnen. Michelle McNamara beschreibt die Taten sachlich, das ist zwar schon ausreichend “schlimm”, aber sie suhlt sich nicht in Brutalität und blutigen Details. Auch die sonst manchmal gefährlich durchscheinende Glorifizierung des Täters wird hier vermieden.

Insgesamt hat mir die Lektüre… ja, was? Weder gefallen noch Spaß gemacht passt hier. Aber sie hat mich gedanklich sehr beschäftigt. Ich habe mit dem Drang der Autorin “dieses Rätsel zu lösen” (so nennt sie es tatsächlich) mitgefiebert und die Erschöpfung der Ermittler gefühlt. Das Buch ist sachlich und trotzdem spannender als viele Kriminalromane, ungewöhnlich gutes Lesefutter für Fans von True-Crime-Geschichten. Aber Vorsicht: als ich es spät abends las und mein Mann den Geschirrspüler ein wenig zu laut zuknallen ließ, bin ich vor Schreck fast vom Sofa gefallen.

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„Ich ging in die Dunkelheit“ von Michelle McNamara, übersetzt von Eva Kemper, erschienen im Atrium Verlag, 416 Seiten

1 comment

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  1. 1
    Konstanze

    Es ist lange her, dass ich Berichte über echte Verbrechen gelesen habe, aber ich habe in letzter Zeit eine Schwäche für Bücher über journalistische und wissenschaftliche Recherchen entwickelt und da der Fall (und die Autorin) in den letzten Wochen auch immer wieder in meiner US-Timeline erwähnt wurden, bin ich nun doch neugierig auf das Buch geworden. Wobei ich überlege, ob ich dann nicht lieber zum englischsprachigen Original greife – oder meinst du, dass das Text zu komplex und kompakt ist und sich doch besser auf Deutsch liest?

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