Rezension: Dieses ganze Leben von Raffaella Romagnolo
Puh, jetzt kommt eine längere Rezension. Macht’s euch gemütlich, kocht euch nen Tee, das dauert einen Moment. Die erwartete Lesezeit beträgt etwa 6 Minuten.
Paola ist 16 Jahre alt und kommt aus einer reichen Familie. Zusammen mit ihrem vier Jahre jüngeren Brudder Riccardo, den super erfolgreichen Eltern und der exzentrischen Großmutter lebt sie in einer kleinen italienischen Stadt. So weit so gewöhnlich, das könnte alles ziemlich langweilig sein. Doch neben dieser Normalität haben die verschiedenen Familienmitglieder natürlich jeweils ihre Probleme, wäre ja sonst kein Roman. Die Eltern sind mit ihrer Firma in nicht ganz so saubere Geschäfte verwickelt, die Großmutter unglücklich verliebt und Paolas Bruder Riccardo genervt von den Therapien, mit denen er täglich gegängelt wird. Riccardo hat eine Behinderung, möchte aber eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Ja und dann ist da Paola selbst. Paola ist in der Schule eine Außenseiterin und wird gemobbt, ist aber auch ein klein wenig verliebt und genervt vom Leben allgemein.
“Ich hasse dieses Video. Aber die Wahrheit ist, dass ich einen Haufen Sachen hasse, auch solche, die alle anderen mögen. Ich bin eine professionelle Hasserin.”
Von Armbändern über Schwimmbäder und Flipflops bis zu zuckerfreier Cola. Paola hasst ziemlich viel. Das sagt sie zumindest. Wir lesen in Raffaella Romagnolos Roman das Tagebuch einer Hauptfigur, die einen festen Panzer aus Distanz um sich errichtet, aber doch eigentlich ziemlich empfindsam ist. Ich habe für sowas ja einen Faible. Also sowohl für diese Form jugendlicher (aber nicht naiv-nerviger) Protagonistinnen und als auch für die direkte, sehr persönliche Erzählform.
Raffaella Romagnolo hat in ihrem Roman “Dieses ganze Leben” ziemlich viel richtig gemacht. Vor allem die Darstellung einer Figur mit Behinderung ist in einigen Aspekten wirklich gut gelungen. Auch wenn dann doch wieder ein paar Klischees bedient werden, die in meinen Augen noch etwas deutlicher reflektiert werden könnten.
Aber fangen wir mal mit dem Positiven an:
Es geht schon damit los, dass die Vorstellung der Figur nicht mit langwierigen (und dramatischen bis langweiligen) Erklärungen über seine Behinderung eingeläutet wird. Die Erwähnung, dass Riccardo behindert ist, geschieht ganz natürlich, wie nebenbei. Seine Schwester greift nach dem Rollstuhl, um ihren Bruder beim Weg über die Straße zu unterstützen. Schon wissen wir, dass er einen Rollstuhl benutzt. Er wird sprachlich aber weder “gerettet” noch “betreut”, die beiden interagieren einfach ganz selbstverständlich miteinander. Da wo die Behinderung eine Rolle spielt, wird sie auch erwähnt, nicht in jedem zweiten Satz.
“Und das hat nichts damit zu tun, dass er behindert ist. Das heißt, irgendwie schon, weil alles komplizierter ist, aber vor allem ist Riccardo mein Bruder, er erlebt was ich erlebe, weiß was ich weiß.”
Also ja, natürlich spielt eine Behinderung eine Rolle und erschwert einige Dinge beziehungsweise macht sie komplizierter (wobei wir hier natürlich auch mal darüber sprechen müssten, wie viele der Probleme eines Menschen mit Behinderung durch eine nicht inklusive Gesellschaft entstehen…), aber sie ist nicht diese düstere, alles beherrschende Macht im Roman.
Wir erfahren nach und nach, dass Riccardo auf Grund einer frühkindlichen Erkrankung des Gehirns im Rollstuhl sitzt. Er kann etwas laufen, weite Strecken sind für ihn aber einfach zu mühsam (allein die Normalität mit der so eine Konstellation beschrieben wird, yay!). Er hat motorisch und sprachlich einige Probleme, wird aber mit eigenen Interessen und einem ziemlich offenen Blick auf die Menschen um ihn herum beschrieben. Zum Beispiel spielt Riccardo Schach, was seine Schwester, obwohl sie viel Zeit mit ihm verbringt, noch nicht wusste. Er hat also Geheimnisse, das heißt er hat Eigeninitiative. Auch, dass hinter der eigentlich sehr offen und liebvoll wirkenden Art seiner Schwester doch auch Vorurteile lauern, hat Riccardo erkannt und konfrontiert sie direkt damit. Er wirkt nicht so passiv und seinem Schicksal ergeben, wie das sonst in Romanen oft der Fall ist.
Auch wie Riccardos Sprache beschrieben wird hat mich fasziniert. Er hat durch Spastiken eine undeutliche Aussprache, das wird genau ein Mal ganz am Anfang erwähnt.
“Gehen wir da hin”, sagt er und zeigt auf die Bar.
In Wirklichkeit sagt er so ungefähr “Geemaaadaiii.”
Ist okay, man gewöhnt sich dran.
Zack, Thema erledigt. Nach diesem Satz werden Riccardos Texte einfach inhaltlich wiedergegeben und auch nicht mit beschreibenden Adjektiven irgendwie “extra behindert” abgewandelt. Einfach weil es in der Regel keine Rolle spielt. Ein Mal wird Riccardo in einem Streit emotional und das wiederum hat dann doch Auswirkungen auf seine Aussprache. Genau an dieser Stelle werden dann auch mal beschreibende Adjektive gewählt, die das deutlich machen. Es wird aber nicht großartig thematisiert.
Ich hoffe, dass Menschen, die eine ähnliche Behinderung wie die Figur haben, sich durch diesen Kniff nicht unsichtbar gemacht fühlen, aber ich persönlich mag die Normalität, die dadurch transportiert wird sehr. Das was Riccardo sagt wird nicht herabgewürdigt oder weniger bedeutsam weil er es undeutlicher ausspricht, als die übrigen Figuren. Der Inhalt seiner Aussagen zählt und es ist daher genau das, was wiedergegeben wird. So stehen seine Sätze ganz normal in den Gesprächen und lassen ihn ebenbürtig neben den anderen Figuren stehen.
Es ist außerdem spannend wie die Verbindungen der verschiedenen Figuren zu Riccardo beschrieben werden.
Da sind die Schuldgefühle der Mutter, die sich ständig fragt ob sie an seiner Behinderung irgendeine “Schuld” trägt. Sie versucht ihren Sohn durch extreme Förderung irgendwie “besser”, “ausreichender” zu machen. Auch Paola, obwohl sie sich sehr liebevoll kümmert, hat wie schon beschrieben Vorbehalte gegenüber ihrem Bruder. Eine schöne Metapher dafür, dass übertriebenes Kümmern und Betüdeln keine Lösung ist und ebenso wenig eine Beziehung auf Augenhöhe ermöglicht, wie Abneigung.
Dagegen wirkt die relative Ignoranz des Vaters zwar vielleicht ein wenig herzlos, wird von Riccardo aber als wesentlich gelassener beschrieben. Auch wenn diese Ignoranz wiederum ein Verstärker der extremen Bemühungen der Mutter zu sein scheint. Vielleicht um das Interesse des Vaters an einem perfekteren Kind zu wecken. Paloa in ihren Mitschriften allerdings hält klar fest, dass es gegenüber dem Vater nicht hilft ein “normaleres” Kind zu sein.
Leider sind es vor allem die wiederholten Darstellungen der Behinderung als “Strafe” und “Schuld”, die in meinen Augen noch etwas problematisch sind. Zwar ist das nur die Sicht Dritter auf Riccardo, aber dadurch steht doch wieder eine Figur mit Behinderung als “Problem” da. Die relative Normalität der Entwicklungen zwischen den Figuren bröckelt an diesen Stellen. Es hätte für meinen Geschmack ein wenig klarer reflektiert werden können, aus welchen Gründen diese Sicht jeweils entsteht. In beiden Fällen nämlich, scheint sie nicht nur aus Riccardos Behinderung zu entstammen, sondern aus Problemen der Figuren mit sich selbst. Thematisiert wird das kaum.
“Es ist nicht die übliche Reaktion, kein Erschrecken, So-tun-als-sei-alles-normal oder Mitleid. Es ist Neugier.”
Für mich schwer einzuordnen waren übrigens diverse Abschnitte, in denen erwähnt wird Riccardo würde Anfälle oder Probleme mit seiner Behinderung vortäuschen, wenn er genervt von den Menschen oder Situationen um ihn herum ist. Das kann man einerseits als Rebellion gegen die unerfüllbaren Erwartungen gegen ihn lesen. Andererseits bedient es ein altes Narrativ vom Behinderten als Schmarotzer beziehungsweise “jemand, der anderen das Leben aus Bosheit schwer macht”. Vielleicht haben andere Leser*innen bessere Deutungen für diesen Aspekt, mir persönlich hat das nicht so gut gefallen.
Aber natürlich geht es in “Dieses ganze Leben” sowieso nicht nur um Behinderungen.
Riccardo ist schließlich nur eine Nebenfigur (juhu!).
In diesem Roman geht es um verschiedene Formen der (Un)sichtbarkeit. Es geht um Teenager, Frauen, Menschen mit Behinderungen und arme Menschen. Sie alle werden in ihrem jeweiligen Kontext nicht gesehen, nicht wahrgenommen. Da gibt es Teenagerinnen, die trotz ihres extrem privilegierten Lebens große Sorgen haben, sie werden ebenso sehr verwöhnt wie ignoriert. Eine Frau, deren Befähigung zu einer Führungsposition und wirtschaftlichem Erfolg nicht mal die eigenen Kinder ahnen. Riccardo, der von seiner Familie wie beschrieben nicht erkannt wird, obwohl er doch scheinbar mit Aufmerksamkeit und Förderung überschüttet wird. Er bleibt doch oft nur das “kleine Problem”. Auch die Sorgen armer Menschen, auf Kosten deren Lebensgrundlage und Gesundheit andere ihren Wohlstand vermehren, bleiben ungehört.
Dieser Wust von Unsichtbarkeiten, fehlenden oder falschen Perspektiven ist ein spannendes wiederkehrendes Motiv der Geschichte. Unterstrichen natürlich noch von der Erzählform des Romans: wir verfolgen den Roman aus Paolas Sicht. Sie ist 16 Jahre alt und natürlich auch mitten in ihrem jugendlichen Kummer versunken.
Die Geschichte ist von Dialogen durchzogen, punktuell an wenigen Stellen unterbrochen von Facebook-Beiträgen oder Chatnachrichten. Daneben stehen Beobachtungen in einer poetischen und doch klaren Sprache. Was entsteht ein Roman, der sprachlich wunderschön und lebendig wirkt.
“Das Schweigen klebt an dir, ist wie Leim, eine Angewohnheit wie das Rauchen, du möchtest aufhören, kannst es aber nicht.”
Doch diese schöne Sprache ist an zwei kleinen Stellen leider nicht ganz zeitgemäß. Auch wenn sie als Schimpfwörter benannt sind, gehören Beleidgungen wie das N-Wort aus meiner Sicht eigentlich nicht mehr in moderne Texte. Es gibt so viele andere schöne Beleidigungen ;)… ich hätte mir gewünscht, dass diese Rassismen keiner jugendlichen Figur in den Mund gelegt und so reproduziert werden.
Außerdem kommentierungswürdig wirken auf mich Paolas Darstellungen von sich selbst: Diese Passagen sind sehr fixiert auf Aussehen und Gewicht. Das mag ein realistisches Bild von medial geprägten Jugendlichen mit ihren erdrückenden Idealen sein, ich hoffe nur Leser*innen hinterfragen dies ausreichend, die Figur tut es nicht.
Spannend ist übrigens die Parallele zwischen den Geschwistern: beide sind auf ihre Art mit Erwartungen konfrontiert, die sie unmöglich erfüllen können, beide rebellieren in ihrem Rahmen dagegen.
Puh, hab ich euch jetzt lang gelangweilt?
Insgesamt ein Roman der mir viel Spaß gemacht hat, weil er zeigt wie Repräsentation sich entwickeln kann. Auch ohne großen Spannungsbogen habe ich gefallen an der Interaktion der Figuren und ihren jeweiligen kleinen Dramen gefunden. Kein spektakulärer Roman aber ein besonderes kleines Schmuckstück.
P.S. Besonders ist auch die Liebesgeschichte der Großmutter (ihr erinnert euch?), irgendwie wird da mit wenigen Sätzen (sie ist schließlich wirklich eine Nebenfigur) eine ganz eigene Handlung erzählt. Aber das würde nun wirklich zu weit gehen…
„Dieses ganze Leben“ von Raffaella Romagnolom, übersetzt von Maja Pflug, erschienen im Diogenes Verlag, 272 Seiten
Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, ob mir der Roman Spaß machen würde, ABER es hat mir große Freude bereitet deine Rezension dazu zu lesen, weil du sie eindeutig mit viel Herzblut geschrieben hast und so viel zu der Geschichte zu erzählen hattest. :)
Du hast es großartig auf den Punkt gebracht. Ich war mit fast allen Punkten ganz bei dir und bei den Übrigen hat es mir enorm geholfen deine Sichtweise nochmal einzubeziehen. Danke dafür!!!