Der Anfang von Morgen


Ich weiß nicht ob es eine besonders gute oder besonders schlechte Idee war „Der Anfang von Morgen“ während einer Hitzewelle zu lesen. So fühlte sich der Einstieg in den Roman gruselig real an. Die Entwicklung im Roman setzt beinahe nahtlos an unsere Realität an: Europa hat sich gerade von Corona erholt, Lockdowns und Kontaktbeschränkungen hinter sich gelassen. Die Pandemie hat alle müde und gereizt gemacht, den Hunger nach lockerem Leben geweckt. Dann bringen mehrere ungewöhnlich heiße und trockene Sommer die Wälder Nordeuropas zum brennen. Die Menschen der Nordhalbkugel sehen sich plötzlich in der Rolle von Klimaflüchtlingen.

Vier Perspektiven beschreiben in „Der Anfang von Morgen“ die darauf folgende chaotische Phase: ein überforderter Familienvater, eine sorglose Influencerin, ein rebellischer junger Mann und ein Mädchen, das seine Jugend an die Klimakrise verliert. 

Obwohl der Roman von Anfang an super spannend und mitreißend erzählt ist, hat mich erst die letzte Figur so richtig gefangen.

Irgendwie bin ich einfach müde von dieser bestimmten männlichen Perspektive des ersten Abschnitts. Vom mittelalten Mittelschichts-Mann, der meint gegen die Langeweile und Dumpfheit in seinem Leben könne nur ein Seitensprung helfen. Ganz ehrlich, sowas hab ich schon so oft gelesen. Es ist nichts neu daran.

Und der Abschnitt ist auch in sich nicht ganz schlüssig. Einerseits ist es toll, dass da keine Survival-Experten agieren. Es sind Menschen, die auch mal instinktiv falsch handeln. Schließlich sind es ganz normale Menschen in extremen Situationen. Aber die Charakterisierung von Didriks Frau wirkt über den gesamten Roman hin weg seltsam. Sie wird einerseits an mehreren Stellen als jammernd und wehleidig beschrieben. Sie ist schnell verzweifelt und sucht Schutz bei ihrem Mann oder sogar ihrer Tochter. Dennoch ist es dann sie, die eine starke Entscheidung trifft und die Verantwortung übernimmt. Diese Entwicklungen sind im Roman manchmal einfach schwer nachvollziehbar.

Auch die nächste Figur strotzt vor langweiligen Klischees: mit der Figur der oberflächlichen Influencerin macht es sich der Autor vielleicht ein bisschen zu leicht. Sie steht für Ignoranz gegenüber Klimakrise und Konsumkritik. Ihr privilegiertes Leben wird von den Bränden kaum beeinflusst. Eher ist es das Leid der anderen, das ihr Unannehmlichkeiten bereitet. 

Den Abschluss bildet die Perspektive eines Mädchens, das in diesem Chaos versucht seine Jugend zu leben. Das unfassbar viel Verantwortung trägt (auch im metaphorischen Sinne) und irgendwie bemüht ist in all dem nicht unter die Räder zu kommen. Wie auch in den anderen Abschnitten mischen sich hier die globalen Krisen mit den Problemchen des normalen Alltags. Es macht diesen Roman so greifbar, dass das nackte Überleben neben Alltagsproblemchen und sozialen Medien (alle haben noch hin und wieder Zeit für Posts und Likes) steht. Das wurde besonders am Ende schmerzhaft deutlich.

Die dritte Perspektive hat mir im Bezug auf die Handlung leider am wenigsten gebracht. Wir verfolgen das Leben eines antriebslosen jungen Mannes, der im Schatten seines erfolgreichen Vaters steht. Der nie genug Ehrgeiz für große Taten und nie genug Wut für Rebellion verspürt hat. Auch in dieser größten Katastrophe fällt es ihm schwer mal wirklich auszubrechen. Als er dann seine kleinen Ausbrüche erlebt, bringen die dann die Handlung aber wiederum kaum voran. 

„Der Anfang von Morgen“ ist insgesamt ein erzählerisch toll gelungener Roman, der aber doch noch einiges an Potenzial verschenkt. Da sind so starke Szenen und Bilder (gerade im ersten Abschnitt), aber in der Gestaltung der Figuren ist doch noch Luft nach oben. Ein Buch zu einer wichtigen Thematik, das unterhaltsam und packend geschrieben ist und vielleicht gerade locker genug ist, um im Urlaub gelesen zu werden, aber auch ernst genug, um dann über Klimakrise, persönliche und gesellschaftliche Verantwortung ins Gespräch zu kommen.

 

„Der Anfang von Morgen“ von Jens Liljestrand, übersetzt von Thorsten Alms, Karoline Hippe, Franziska Hüther und Stefanie Werner, erschienen im S. Fischer Verlag, 544 Seiten. 

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