Richtig alt sind nur die Anderen


Inge ist 84 Jahre alt, aber recht rüstig. So „richtig alt“ fühlt sie sich noch nicht. Bis sie auf ihrer Treppe ins stolpern kommt, stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht. Plötzlich kommt sie in ihrem kleinen Haus nicht mehr allein zurecht. Ihr Sohn Carsten muss zurück in sein Heimatdorf im Osten kommen und sie pflegen. Weil gerade Sommerferien sind, bringt er seine Tochter Lissa gleich mit. 

Katja Schönherr erzählt in „Alles ist noch zu wenig“ eine Geschichte, die wohl viele von uns aus der näheren oder weiteren Familie kennen. Daraus setzt sie einen Generationenroman zusammen, der mich absolut begeistert hat. Denn Bücher über das Altern gibt es viele. Aber das Thema „pflegende Angehörige“ ist mir bisher noch in keinem Roman in dieser direkten Form begegnet. 

Die komplizierte Gemengelage aus Pflichtgefühl, dem Bedürfnis das eigene Leben nicht komplett beiseite zu stellen und die emotionale, moralische Bindung, die einen dann eben doch irgendwie „zwingt“ bringt die Autorin toll auf den Punkt. Das sind alles so komplizierte Gefühle und es macht so viel Sinn und ist so gut und wichtig, dass darüber mal gesprochen wird. 

Viel zu oft hat man das Gefühl dass Menschen in dieser Situation einfach nicht gesehen werden. Weder die Pflegenden, noch die Gepflegten. Denn auch die Ängste von Inge sind wichtig. Da geht es um die Furcht „abgeschoben“ zu werden, um den Verlust bestimmter Fähigkeiten und Freiheiten. Ich selbst hatte immer wieder bei Knochenbrüchen Angst, dass ich bestimmte Dinge nicht mehr zurückerlangen kann. Dass ich vielleicht nie wieder sitzen, aufstehen, nie wieder ein paar Schritte gehen könnte. Die emotionale Auseinandersetzung damit ist nicht immer ganz einfach. 

Und klar, Inge ist manchmal trotzdem einfach super anstrengend. Die Abschnitte aus ihrer Perspektive zeigen neben ihrer Einsamkeit und bestimmten Ängsten auch eine unheimliche Ich-Bezogenheit. Sie ist mit dem Leben im Allgemeinen und ihrer Familie im Speziellen unzufrieden, fühlt sich permanent benachteiligt und vergleicht sich mit anderen. 

In diesem Unwillen sich auch irgendwie in den anderen hineinversetzen zu wollen, ähneln sich jedoch alle drei Figuren. In ihrer Unfähigkeit für Empathie sind sie ironischerweise vereint. 

„Mit seiner Mutter zu reden, ist wie der Versuch einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten. Nie kriegt man es richtig hin. Immer endet es mit Wut. Am liebsten würde man den Zettel zerknüllen und wegschmeißen. Stattdessen stopft man ihn in die Packung zurück, sodass die Tabletten kaum noch hineinpassen, und ärgert sich beim nächsten Öffnen aufs Neue.“

Ich liebe wirklich alles an diesem Buch. Die aufeinanderprallenden Generationen mit ihren jeweils ganz eigenen Sorgen, die schwierige aber doch so wichtige Thematik, den bösen Witz. Manchmal blieb mir das Lachen beinahe im Hals stecken. Soll man wirklich darüber lachen?

Um so zu funktionieren müssen die Figuren natürlich ein bisschen überzogen sein. Sie wirken wie Stereotype ihrer Generationen. Inge mit Fliesentisch und „was könnten denn die Nachbarn sagen“, ihr Sohn der typischer Boomer und die Enkelin als vegane Feministin. Aber sie funktionieren in diesen Schemas einfach wunderbar. 

Zwischendurch musste ich das Buch mehrfach kurz zur Seite legen, weil ich beinahe Beklemmungen bekam beim Lesen. Diese Enge im ostdeutschen Durchfahrts-Kaff, die Art wie die Nachbarn übereinander reden, welche Erwartungen ganz selbstverständlich von Inge an ihre Söhne gestellt werden. Das hat sich viel zu echt und eng angefühlt. Richtig gut gemacht.

Am Spiel mit den Perspektiven liebe ich außerdem immer wieder besonders, wie die selben Themen (hier zum Beispiel etwas so banales wie ein Bademantel) für die verschiedenen Figuren ganz unterschiedlich erlebt werden. Das ist uns rein logisch klar, aber es tut gut sich das vor Augen zu führen, finde ich. Ganz klare Leseempfehlung.

 

„Alles ist noch zu wenig“ von Katja Schönherr, erschienen im Arche Verlag, 320 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

1 comment

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    Carina

    Liebe Alexandra,
    Das klingt irre spannend. Altern macht was mit mir. Sowohl dass ich älter werde, als auch meine Tochter und dann sehe ich auch, dass meine Eltern älter werden. Ich glaube vor dem Hintergrund dieser Trias könnte das genau mein Buch sein.

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