Rezension: Unter der Mitternachtssonne von Keigo Higashino


Mit 720 Seiten ist “Unter der Mitternachtssonne” ungefähr doppelt so dick wie die anderen Bücher des Autors. Es ist außerdem gut sichtbar als Thriller gekennzeichnet, nicht als Roman oder Kriminalroman wie seine übrigen Werke. Doch das sind längst nicht alle Unterschiede.

Die Handlung beginnt zunächst gewohnt: mit einem Mord. 1973 kommt der Pfandleiher Kirihara unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben und der hartnäckige, akribische Detektiv Sasagaki ermittelt in diesem Fall.
Aus dieser Grundsituation entspinnt sich ein Thriller mit weit verzweigten Ver- und Entwicklungen, dessen Handlung sich über viele Jahre beziehungsweise Jahrzehnte erstreckt. In gewohnt detailliertem, feinsinnigem Stil wagt sich der Autor an eine ganz ungewöhnliche Geschichte.

Keigo Higashino arbeitet sonst mit einem meist kleinen Ensemble wichtiger Figuren, seine Kriminalromane leben vom Rätsel und dem Auge fürs Detail. Zwar merkt man auch in “Unter der Mitternachtssonne” diese Freude am Detail, aber das Buch lebt viel mehr von Spannung und sogar Action. Es bleibt nicht bei dem einen Mord vom Anfang, es gibt Gewalt, Prostitution und psychologische Spielchen.

Im Buch findet sich ein Lesezeichen, mit den wichtigsten handelnden Personen. Nicht weniger als 19 Hauptakteure sind darauf verzeichnet und kurz charakterisiert. Ihre Verbindungen sind vielfältig und diese Fülle hat es mir zunächst schwer gemacht wirklich in dieser Geschichte anzukommen. Hat man die ersten Klippen aber überwunden, macht es unheimlich viel Spaß den interessanten Charakteren auf ihren verzweigten Wegen zu folgen. Eine unmittelbare Nähe oder Sympathie konnte ich dennoch für keine der Figuren empfinden. Es ist als beobachte man aus der Ferne einige Menschen. Man erkennt die einzelnen Personen vielleicht nur grob, sieht aber, dass sich das Geschehen auf eine Katastrophe zubewegt. Die Luft knistert, der Himmel verdüstert sich. Man fiebert also trotzdem mit ihnen mit.

Es fällt mir unheimlich schwer meine Eindrücke zu diesem Buch in Worte zu fassen: es hat Ecken und Kanten, die ich von diesem Autor nicht gewohnt bin, aber sehr genossen habe. Es war anders als erwartet, aber gleichzeitig auf andere Weise gut. Es gibt Figuren, deren Bösartigkeit die Handlung fast vergiftet. Es gibt Figuren und Fügungen, die erhellen alles um sie herum.

Ich würde “Unter der Mitternachtssonne” allen Lesern düsterer, ruhiger Thriller empfehlen. Allen Lesern, die Freude an der Spannung haben, die durch zwischenmenschliche Konflikte und Intrigen entsteht.

“Unter der Mitternachtssonne” von Keigo Higashino, übersetzt von Ursula Gräfe, erschienen im Tropen Verlag, 720 Seiten, 25,00 € (Hardcover)

1 comment

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  1. 1
    Britta

    Tolles Buch! Ich habe es auch vor kurzem gelesen. Mein erster Higashino. Wirklich sehr ungewöhnlich. Habe etwas gebraucht, um „reinzukommen“. Aber je weiter ich kam, desto mehr wollte ich wissen, wie es ausgeht!

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