#LebenSchreibenAtmen: Von der Last der ungeschriebenen Worte


Manche Worte sind in meinem Kopf so groß und schön und wahr, dass ich mich plötzlich ganz literarisch fühle. Ich möchte dann schreiben, nicht nur meine üblichen Blogbeiträge und Rezensionen. Ich möchte mehr. Ich möchte treffsichere Reportagen und bewegende Romane verfassen.

Seit Tagen lese ich nun in diesem Buch, das zum Schreiben animiert. Nach jedem Kapitel platzt mein Kopf voll ungesagter Dinge, Erinnerungen und Ideen, die unbedingt aufgeschrieben werden wollen. Aber dann schreibe ich nicht.
Morgen schreibe ich, jetzt bin ich zu müde, ich muss doch erst zum Sport und das Waschbecken hat diesen Kalkrand, es müsste ganz dringend mal wieder geputzt werden.
Es ist, als hält mich etwas davon ab, die Worte aufzuschreiben und für alle lesbar preiszugeben. Vielleicht will ich meine Erinnerungen gar nicht teilen? Ich wüsste nicht einmal mit wem? Wer interessiert sich schon dafür? Ich bin zu ängstlich, zu eifersüchtig. Bewahre sie in meinen Gedanken und merke doch, wie flüchtig sie da eigentlich sind.
Und schaffe ich es überhaupt meinen eigenen Ton zu finden oder zu treffen? Schreibe ich sonst, weil mich ihr Buch auf diese Schreibreise mitnimmt, nicht Erinnerungen von Doris Dörrie an meine Kindheit auf? Ihr Ton und Rhythmus sind eingängig und die Gefahr scheint groß, diesen zu übernehmen. Sie schreibt wunderschön, aber eben nicht wie ich. Habe ich denn überhaupt schon meinen eigenen Ton?

Trotz der Zweifel will ich an meine Worte herankommen. Ich pirsche mich an. Ich forme und feile an ihnen unter der Dusche, beim Kaffee oder in der Bahn. Dabei vergesse ich sogar auszusteigen. Diese Jagd nach den richtigen Sätzen ist so ungewohnt und neu für mich. So tief war ich lange nicht mehr in meinen Gedanken verheddert. Schreiben ist mir noch nie so schwer vorgekommen.

Auf der Arbeit angekommen schreibe ich den ganzen Tag. Mails mit weniger oder mehr Wert, Chats, Konzepte. Dort schreibe ich leicht, aber ohne von der Last der ungeschriebenen Worte etwas abzulegen.
Meine Kollegen sagen, wenn ich in meine Tastatur tippe, klingt das wie ein Maschinengewehr. Ein Maschinengewehr aus Worten sozusagen. Dort, wo die Worte einfach da sind, wo ich sie nicht hervor zwingen und an ihnen feilen und formulieren muss, tippe ich 444 Zeichen pro Minute in die Tastatur. Das habe ich gemessen mit einem dieser Programme. Google sagt eine Standard Normseite hat ungefähr 1.800 Zeichen. Mindestens 300 Seiten sollte mein Roman schon haben. Das sind 540.000 Zeichen, die geschrieben werden müssten. In gut 1.216 Minuten, also 20 Stunden, habe ich meinen Roman beendet. Klingt machbar, theoretisch.

Wieder zu Hause wage ich den nächsten Versuch. Ich möchte so flüssig, leicht und fließend schreiben wie am Tag. Doch der Cursor blinkt lange, ohne dass ich einen Anfang finde. Ich schreibe wenige Worte, lösche sie wieder. Ich gehe vor und zurück. Immer wieder setze ich an und gebe auf. Kein Wort scheint richtig oder genug.
So habe ich am Abend wieder kein einziges Zeichen geschrieben. Habe doch wieder nur ganz viel nicht gesagt.

“Schreib über das Haus deiner Kindheit”, das ist eine der ersten Aufgaben im Buch. Das Haus meiner Kindheit wird gerade verkauft. Stück für Stück leer geräumt und für neue Menschen, neues Leben frei gemacht. Vor einer Weile war ich noch einmal da, habe alles so gesehen, wie es war. Viel verändert hatte sich seit damals nicht. Die Kinderzimmermöbel waren natürlich längst nicht mehr da, mein hässlich-schönes schwarz-grün-lila geflecktes Sofa wurde durch ein moderneres ersetzt. Aber irgendwie war es noch genau das Haus, in dem ich 18 Jahre lang gelebt habe.
Es ist ein seltsamer Gedanke, dass dieses Haus jetzt abgegeben wird und ich es so nie mehr betreten werde. Gleichzeitig befreiend und schwer.
Ich erinnere mich an die schönen Zeiten. An die Tage im Garten, wenn ich glücklich und ruhig unter dem großen Mammutbaum lag. Ich habe in die Äste geschaut, gegen die einzelnen Sonnenstrahlen geblinzelt und mich vom warmen Wind zudecken lassen. Diese Wärme und Zufriedenheit spüre ich sofort, wenn ich daran denke.
Die düsteren Zeiten versuche ich hingegen lieber zu vergessen. Zu bedrückend ist das alles und zum Glück zu lang her. Schnell schaue ich weg, wenn mich einzelne Ecken daran erinnern wollen.

Während ich in Gedanken also durch das Haus und den Garten meiner Kindheit gehe, überlege ich wie mich das dem Schreiben näher bringen kann. Versinke ich gerade nicht zu sehr in meinem Kopf, wenn ich so in Erinnerungen wühle? Kann ich da eigentlich noch mehr versinken? Soll ich, will ich, muss ich meine Geschichten auf meinen Erinnerungen aufbauen?
Vielleicht sollte ich sowieso über mein Leben schreiben. Irgendeines dieser Motivationsbücher von erfolgreichen Behinderten. Oder ein Erfolgsbuch einer motivierenden Behinderten? Nein, das alles will ich ganz sicher nicht schreiben.
Auch keinen Krimi, das habe ich schon probiert. Erfolglos. Schon während ich eine Geschichte plane, verlaufen sich meine Ermittler. Es ist wirklich aussichtslos. Gibt es eigentlich Krimis, in denen die Fälle nie gelöst werden und der Ermittler am Ende frustriert aufgibt? Das wäre vielleicht genau mein Genre.

Nun habe ich tagelang überlegt und bin weder dem Roman noch der treffsicheren Reportage näher gekommen. Oder vielleicht doch?
Denn irgendwie bin ich unbemerkt dem Schreiben näher gekommen. Obwohl ich im Moment eigentlich fast nur für mich schreibe, merke ich, dass es das ist, was ich tun will, was mich glücklich macht.
Die ungeschriebenen Worte haben sich im Lauf der Tage wie Gewitterwolken zusammengebraut. Jetzt schreibe ich endlich, um diese Last abzubauen, um zu sehen wohin mich die Worte bringen.

Am Ende musste ich einfach anfangen.

#LebenSchreibenAtmen

Als mich Sarah ansprach, ob ich im Rahmen von #LebenSchreibenAtmen über das Schreiben bloggen möchte, war ich sofort begeistert.
Schreiben hatte schon immer einen wichtigen Stellenwert in meinem Leben, aber ich war neugierig auf diese Reise, in der ich mich diesem Thema noch einmal neu und bewusst nähern wollte.

Mein Text entstand in den Wochen der Lektüre des Buches und es kostet mich eine Menge Mut, ihn hier mit euch zu teilen. Sonst gebe ich leichtfertig ein Urteil über die Werke von Autoren ab, heute möchte ich euch meinen ersten literarischen Text schenken und euch damit zum Schreiben einladen!

In Sarahs Beitrag findet ihr noch nähere Informationen zu unserer Aktion. Hier aber noch ein kurzer Hinweis zu unserem Gewinnspiel:

Teilt bis zum 22. September 2019 unter dem Hashtag #LebenSchreibenAtmen auf Facebook, eurem Blog, Twitter oder Instagram euren persönlichen, durch die Schreibanregungen entstandenen Text und schickt eine Mail mit Betreff #lebenschreibenatmen und dem Link zum Post sowie der eigenen Postadresse an gewinnspiel@diogenes.ch (Hier geht es zu den Teilnahmebedingungen). Unter allen Teilnehmer*innen werden zehn Exemplare des Buches verlost. Als besonderes Highlight könnt ihr dreimal je eine Karte (plus Buch) für die Live-Schreibwerkstatt am Buchmessemittwoch, den 16.10.2019 im Frankfurter Literaturhaus gewinnen. Nähere Infos zu der Veranstaltung findet ihr hier! Mitmachen lohnt sich also unbedingt!

7 Comments

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  1. 1
    Wibke Ladwig

    Schön, vom Verheddertsein zu lesen. Und dann dachte, ich dass ich doch bitte mal einen Krimi lesen möchte, in denen sich die Ermittler gleich zu Anfang verlaufen und plötzlich wird dann eben kein Fall gelöst, sondern … sie verheddern sich. Ich lese so selten Krimis. Aber das wäre einer.

    • 2
      Alexandra

      Hallo Wibke,

      Danke für deinen Kommentar! Ich werde das dann als Vorbestellung für meinen 2021 erscheinenden Nicht-Kriminalroman werten, okay? ;) Tatsächlich frage ich mich, wie die üblichen Krimileser darauf reagieren würden…

      Liebe Grüße,
      Alexandra

  2. 3
    Kerstin von KeJas-BlogBuch

    Hallo liebe Alexandra, ich liebe deinen ersten Satz! Und alle die danach kommen, vielleicht auch weil ich mich da ganz viel selbst gefunden habe. In den Gedanken die man formt und die purzeln und rauswollen und wenn ich da sitze verstecken sich alle und ich muss erst anfangen zu suchen. Dein Beitrag hier ist eine wunderschöne und ehrliche Inspiration und ich muss den jetzt nochmal lesen. Danke dir vielmals dafür.
    Liebe Grüße, ich denke gerade an mein Elternhaus und so viele Dinge fallen mir dazu ein, wunderbare Erinenrungen und auch trauriges, aber es bringt mich gerade zum Lächeln.
    Kerstin

    • 4
      Alexandra

      Liebe Kerstin,

      du glaubst nicht wie mich dein Beitrag freut! Das war und ist so ungewohnt einen so persönlichen und eben nicht sachlichen Text zu veröffentlichen. Er hat mir in den letzten Wochen viel Spaß gemacht, daran zu arbeiten und ich glaube diese Art des Schreibens werde ich jetzt so schnell nicht mehr loslassen können. :)
      Vielleicht habe ich dich jetzt auch angesteckt und du schreibst über dein Elternhaus? Ich würde es sooo gern lesen!

      Viele liebe Grüße,
      Alexandra

  3. 5
    wolfgang weiland

    danke für diesen Beitrag, ich lese (und versuche danach zu arbeiten) im moment ’schreiben dicht am Leben‘ von h.j. ortheil.
    Ein geschenk von meiner Tochter. dieses Buch was du hier vorfstellst ist auch etwas für mich, obwohl schon älter…
    lg wolfgang

    • 6
      Alexandra

      Hallo Wolfgang,

      Danke für deinen Kommentar und den Tipp! Das Buch muss ich dringend kaufen. Das hast du ja gut gemacht. Wenn dir das gut gefällt könnte Doris Dörrie aber definitiv auch etwas für dich sein! Ich hoffe du hast Spaß an der Idee von #LesenSchreibenAtmen und gibst vielleicht auch einen Text ab? :) Halte mich auf dem Laufenden!

      Liebe Grüße,
      Alexandra

  4. 7
    Petzi

    So ein toller Text. Ich finde mich in deinen Worten irgendwie sehr gut wieder und bin selbst schon ganz gespannt, was da von euch noch kommt und wie das Buch sein wird. Das brauch ich nämlich unbedingt.

    Ganz liebe Grüße
    Petzi

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