Rezension: Jenseits der Erwartungen von Richard Russo


Dieses Buch war nichts für mich und nicht “für mich”, so viel steht fest. Es liest sich wie ein Buch von einem alten weißen Mann für alte weiße Männer. Sowohl der Autor als auch die Protagonisten gehören in diese Kategorie und es ist ihm besonders wichtig auf die Probleme, Sorgen und Nöte dieser unterdrückten Gruppe (Entschuldigung, Ironie) hinzuweisen. Ich schätze Richard Russo sehr, er ist ein großartiger Erzähler. Aber dieses Buch liest sich verzweifelt, anders kann ich es nicht ausdrücken.

Es wird wirklich schwer diese Rezension zu verfassen ohne Aspekte der Handlung zu verraten, aber ich gebe mein Bestes. In diesem Buch wurde so unendlich viel verschenkt, der Titel “Jenseits der Erwartungen” fasst das wirklich gut zusammen. Es war für mich jenseits jeder Erwartung, wie sich dieser Roman entwickelt.

Alte Männerfreundschaft

Die Geschichte handelt von drei alten Freunden – Ted, Mickey und Lincoln. Nach 44 Jahren treffen sie sich erstmals wieder in jenem Sommerhaus in Martha’s Vineyard, in dem sie einst ein schicksalhaftes Wochenende verbrachten. Zur Feier ihres Studienabschlusses waren die jungen Männer damals mit ihrer Freundin Jacy auf die Insel gefahren. Alle drei waren sie bis über beide Ohren in die junge Frau verliebt, aber keiner traute sich, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Am Ende jenes Wochenendes ist es zu spät. Jacy ist verschwunden und 44 Jahre lang werden die Männer sich fragen, was mit ihr geschehen ist.

Tja und das ist es auch schon. Es geht um drei alte Männer, die sich an eine junge Frau beziehungsweise wohl eher an ihre vergangene Männlichkeit erinnern. Die verschwundene Jugendliebe wirkt wie ein Symbol. Sie steht für die verpassten Chancen, die nunmehr fehlende Zukunft. Jetzt sind die Männer jenseits der 60 und bedauern sich (jeder auf seine Art) gern selbst.
Es ist einfach ein Buch über alternde Männer. Körperlicher Verfall scheint Russo dabei besonders zu beschäftigen. Wir lesen von Rückenschmerzen, Impotenz und Behinderungen (zu denen man natürlich rein sprachlich “verdammt” ist, klar. Seufz.).

Die Sache mit den Frauen

Ein quasi-feministischer Abschnitt zwischendrin hat mich wirklich irritiert (und gefreut). Weil er nicht zum Tenor des restlichen Buches passt. Und die Thematik ist wichtig: das Männer eine potenzielle Gefahr für Frauen darstellen, weil sie selbst Gewalt/Unterdrückung ausüben oder es viel zu oft stillschweigend decken, wenn andere Männer das tun.
Wie nebenbei streift Russo also das Thema männliche Gewalt und daraus hätte wirklich was werden können. Denn wie krass ist es eigentlich, dass wir immer, wenn wir von einer verschwundenen Frau hören, sofort daran denken (müssen), dass ein Mann ihr gefährlich geworden ist? Aber obwohl der Autor diese komplexe Thematik aufgreift und ich schon hoffte, dass das der Kern der Geschichte sein wird, lässt er sie viel zu schnell fallen. Schnell relativiert der Autor diesen einen Abschnitt wieder, dreht ihn, zieht in in Zweifel. Feministisch wird es hier also nicht wirklich.

Im Gegenteil. Ständig fallen Sätze nach dem Motto “wenn er eine Frau wäre, würde er X” um dann zu sagen “aber weil er keine Frau ist, Y”. Natürlich geht es in beiden Sätzen um Klischees. Frauen kümmern sich, haben Handcreme und Taschentücher dabei und Männer putzen sich ihre Nase an rauer Baumrinde oder Geröll. Frauen haben einen Plan, Männer folgen ihrem Schicksal, ihrer Intuition.

Ich möchte ja nicht auf diesem Thema herumreiten, aber die Männer/Frauen-Thematik in diesem Buch war schon echt ein besonderes Kaliber. Im gesamten Roman kommen Frauen kaum selbst zu Wort. Die direkten Dialogzeilen von weiblichen Protagonistinnen (also da, wo es nicht nur von Männern nacherzählt wird) passen vielleicht auf zwei Seiten. Frauen sind nur da um von Männern gerettet zu werden oder als Sidekick zur Unterstützung für einen Mann. Sie haben keine eigenen Ziele, keine Funktionen oder Inhalte. Lincolns Mutter zum Beispiel wird immer wieder bedauert, wird in wenigen Sätzen auch charakterisiert, die große Aufmerksamkeit gilt aber (natürlich) seinem Vater.

Und sonst so?

Russo ist, wie gesagt, ein wahnsinnig guter Erzähler. Deswegen habe ich dieses Buch gern beendet, obwohl ich mich an so vielen Aspekten störte. Er erzählt amtosphärisch dicht und auch die gewählte Erzählperspektive hat mir gefallen. Obwohl es drei Hauptcharaktere gibt, wird die Geschichte nämlich nur aus der Perspektive von zwei von ihnen im Wechsel erzählt. Das macht neugierig und man ahnt schnell, dass es einen bestimmten Grund hat. Als ganz am Ende eine dritte Person zu Wort kommt, klärt sich dieser Kniff auf und setzt einen schönen Abschluss für die Geschichte.

Die Entwicklung der Geschichte selbst ist leider ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Im letzten Drittel kommt der große Plottwist, der sich aber eher nach Tischfeuerwerk als Silvesterrakete anfühlte. Da wird zu viel zurecht konstruiert, um Verbindungen passend zu machen, die irgendwie nicht so recht passen wollen. Am Ende wird dann eine Kalenderblattweisheit als großer Kern der Geschichte verkauft, die ich schon in zig verschiedenen Geschichten gelesen habe. So in Richtung “du kannst deine Freunde und dich selbst nie genau kennen” und dann irgendwas gewichtiges mit Schicksal. Naja.

Unterm Strich ein gut geschriebenes, mühsam konstruiertes Buch mit fragwürdiger Botschaft aber netter Atmosphäre. Ich glaube es braucht die richtigen Leser (generisches Maskulinum kein Zufall), die sich auf diese wehmütige, leicht selbstmitleidige “früher war alles besser”-Geschichte einlassen können. Ich habe zuviel davon gelesen und keine Geduld mehr dafür.

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„Jenseits der Erwartungen“ von Richard Russo, übersetzt von Monika Köpfer, erschienen im Dumont Buchverlag, 432 Seiten

3 Comments

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  1. 1
    Carina

    Herrlich geschrieben, liebe Alexandra! Es ist zwar klar, dass das Buch „jenseits der Erwartungen“ zurück blieb (Wortwitz vor dem ersten Kaffee, Entschuldigung), dennoch beschreibst Du den Roman mit ungewöhnlich viel Empathie und einem Augenzwinkern. Das tut richtig gut und lässt mich mit der Frage zurück, ob ich wohl auch die Bücher rezensieren sollte, denen ich eine Bewertung von weniger als 3/5 gebe. Danke dafür!

    • 2
      Alexandra

      Liebe Carina,

      vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Und das noch vor dem ersten Kaffe, Respekt! :)
      Ich habe mich am Anfang irre schwer getan Bücher zu rezensieren, die für mich eher in die Kategorie „Reinfall“ fallen. Manchmal ist es ja auch nur ein undefinierbares „mäh, ne das hat mich nicht gepackt“, aber wenn es so ganz konkrete und (in meinen Augen) nachvollziehbare Kritikpunkte sind, macht es mir jetzt um so mehr Spaß diese auch zu benennen :) Auch eine negative Rezension kann ja gute Werbung sein, weil vielleicht einige Leser*innen sagen „Ja, cool, das ist genau meins! Alte Männer mit Rückenschmerzen, sounds sexy!“ ;).

      Viele Grüße,
      Alexandra (hab gerade auch ordentlich Rückenschmerzen…)

  2. 3
    Konstanze

    Ich liebe deine Reinfall-Rezensionen! Vielleicht mag ich sie gerade deshalb so sehr, weil es oft schwierig ist zu sagen, wieso man ganz genau ein Buch mochte, während es einfacher zu sein scheint den Finger darauf zu legen, wieso eine Geschichte eben nicht für einen funkioniert und über welche Aspekte man gestolpert ist.

    Ich glaube, obwohl ich früher so einige Bücher von „alten weißen Männern für alte weiße Männer“ gelesen habe, gibt es inzwischen nur noch ein Buch in meinem Regal, das ich in die Kategorie stecken würde. Und auch „Wonder Boys“ muss ich wohl mal wieder lesen, um zu schauen, ob der Roman wirklich bleiben darf … Ich habe in den letzten Jahren deutlich weniger Toleranz übrig für diese Art des Tunnelblicks bei Geschichten.

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