Rezension: Zeit der Wildschweine von Kai Wieland


Stell dir einen Kipplaster voll bunter Dinge vor. Themen, Strukturen und Figuren, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben, dann aber fest verknotet werden. Das kann manchmal ein bisschen rumpeln, ergibt aber Bilder, die dir so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. So in etwa ist “Zeit der Wildschweine” von Kai Wieland.

Manchmal hat mir der Kopf geschwirrt: Gedankenkreise, zeitliche und räumliche Sprünge wollten mich aus dem Text abschütteln. Dann wieder war ich beeindruckt von der Klarheit und Schönheit bestimmter Abschnitte, besonderer Sätze und Gedanken.

Wiederkehrendes Thema des Buches sind die Relikte des Lebens, die wir permanent in verschiedenen Formen hinterlassen. Erinnerungen, geschriebene Worte, Fotografien oder gleich ganz zurückgelassene, verlorene Orte erzählen die Geschichte eines Lebens. Das ist die gedankliche Klammer, die diese wunderbare Themenfülle bündelt und uns während der Reise begleitet.

Verlier kein Wort über den Fight Club!

Die Reise, die im Roman beschrieben wird, ist die von Leon. Seine Reise, wobei eigentlich mehr als eine Reise beschrieben wird, beginnt im Boxclub in der schwäbischen Provinz. Dort findet er mehr Mütter-Yoga als Fight Club vor, begegnet aber auch Janko. Er ist so eine Figur, auf der ich während der gesamten Lektüre herumgekaut habe.

“Bruder, die Menschen sind komplizierter als ein Satz auf ihrem Steiß.”

Janko ist ein volltätowierter, ebenso verspannter wie cooler Fotograf. Er wirkt zu gleichen Teilen bodenständig und fiktiv, lässt sich kaum fassen. Kai Wieland spielt da mit der Erwartung der Leser*innen. Ist Leon nun ein unzuverlässiger Erzähler oder nicht? Gibt es Janko? Oder ist gleich alles nur eine Fiktion in der Fiktion?
Wer Filme wie “Fight Club” gewohnt ist, liegt bei diesem Roman permanent auf der Lauer. Vielleicht ist alles nur eine Illusion?! Obwohl es doch augenscheinlich nichts gibt, was den Verdacht begründet, Janko könnte nicht existieren.

Zwischen Leon und Janko besteht direkt diese Verbindung. Eine Chemie, die keine tiefe Freundschaft ist, aber sie auch nicht mehr voneinander loskommen lässt. Leon schlägt also vor gemeinsam auf Reisen zu gehen. Als Reisejournalist soll er in Frankreich verlorene Orte – Lost Places – besuchen, Janko wird sein Fotograf.

Verlier KEIN WORT über den Fight Club!

Was folgt ist eine wirre Reise. Sie treffen einen kauzigen Alten, ein Mädchen, das fast noch fiktiver wirkt als Janko und wiederum selbst eine unzuverlässige Erzählerin zu sein scheint. Ein absurdes Kapitel spielt am Set von “Dunkirk” (den ich dann zu Recherchezwecken gesehen habe, aber leider ziemlich langweilig fand, Kai Wieland beschreibt das ganz gut: Männer, die am Strand hin und her rennen und warten). Und eben jede Menge verlorene Orte.

Ich persönlich bin der “Weltuntergangsromantik” von Lost Places total verfallen. Diese Orte, die scheinbar noch die Geschichte ihrer ehemaligen Bewohner*innen atmen, haben mich schon immer interessiert. In “Zeit der Wildschweine” liegt der Sog darin, dass während der Protagonist Lost Places weit weg besucht, sein eigenes Haus Stück für Stück zum Lost Place wird.

Das ist ein bisschen auch die Metapher dafür, dass Leon seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat. Alles wird angetestet (der einmalige Besuch im Boxclub, die halbherzige Karriere als Reisejournalist, irgendwann hatte er auch Gitarrenunterricht) und halbfertig liegen gelassen. Auch in seiner Familie hat Leon seine endgültige Rolle noch nicht gefunden. Nach dem Selbstmord der Mutter löst sich die Kleinfamilie zunehmend auf. Das bringt diesem wankelmütigen Charakter nun nicht gerade mehr Stabilität und reißt alles weiter ins Chaos.

Wenn jemand schlappmacht, ist der Kampf vorbei.

Ich muss zugeben, dass ich das erste Buch des Autors “Amerika” ein wenig lieber mochte. Die heimelige Dorfkneipenatmosphäre war wesentlich leichter zu fassen, als dieser Trip von einem Roman. Thematisch aber bietet “Zeit der Wildschweine” einfach diese bunte Palette und passt zu mir (ich bin Jahrgang 1988) und meiner medialen Prägung ziemlich perfekt.

Deswegen ist eins ist diesmal ganz leicht zu sagen: wem ich dieses Buch empfehlen kann? “Zeit der Wildschweine “ist ein Roman für Menschen, die Filme von Christopher Nolan mögen. Wenn du Spaß am wirren Aufbau von “Memento”, an den Kopfnüssen von “Inception” oder “Interstellar” hast, dann könnte auch dieser Roman dir Spaß machen. Denn der Regisseur ist nicht nur das Idol des Protagonisten, sondern auch ein wenig literarisches Vorbild des Autors.
Es ist aber auch ein Roman für uns 30somethings, die sich manchmal noch ein bisschen Lost im Leben fühlen. Ganz allgemein für alle, die selbst noch auf der Reise sind. Denn deren Leben fühlt sich vielleicht selbst manchmal an wie ein zu voll bepackter Kipplaster.

 

„Zeit der Wildschweine“ von Kai Wieland, erschienen im Klett-Cotta Verlag, 271 Seiten

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