Rezension: Insel der verlorenenen Erinnerung von Yoko Ogawa


In Yoko Ogawas Roman “Insel der verlorenen Erinnerung” erzählt sie die Geschichte einer namenlosen Insel, auf der fortwährend Dinge verschwinden. Fotografien, Früchte, Musikinstrumente. Die Bewohner der Insel wachen morgens mit einem unguten Gefühl auf, wissend das erneut etwas verschwunden ist und können dem Verblassen der Erinnerungen doch nichts entgegensetzen.

“Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht.”

Das Gewicht des Vergessens

Der verträumte, poetische Erzählstil des Romans könnte vermuten lassen, dass es sich um übernatürliche, fast magische Geschehnisse handelt. Doch was da beschrieben wird trägt die Züge einer Diktatur: eine übermächtige und überstrenge Erinnerungspolizei bewacht die Einhaltung des verordneten Vergessens. Menschen, die sich weigern zu vergessen, werden abtransportiert, alle Bürger streng überwacht.
Die Atmosphäre der Unterdrückung und des zunehmenden Mangels schwebt über allem. Doch obwohl den Menschen nach und nach auch die einfachsten, wichtigsten Dinge genommen werden, verlieren sie nicht die Zuversicht. Sie klammern sich an ihre verbliebenen Erinnerungen. Manchmal scheint das beinahe alles ein wenig zu passiv, aber das täuscht.

“Wenn eine neue Lücke entsteht, nehmen die Menschen die Situation ohne viel Aufhebens hin und widmen sich dem, was übrig bleibt. So wie sie es immer getan haben.”

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive einer jungen Schriftstellerin. Einer Figur also, der Worte und ihre Bedeutungen besonders wichtig sind. Sie erlebt das Verschwinden der Dinge besonders intensiv, weil mit jedem Verschwinden der Verlust von Worten, Bedeutungen und eben Erinnerungen verbunden ist. Sie selbst kann die Erinnerungen nicht bewahren, aber ihre Mutter stellte sich gegen das Vergessen und starb, nachdem sie von der Erinnerungspolizei verschleppt wurde. Durch die junge Autorin lernen wir, dass es in dieser Welt Menschen gibt, die sich dem Vergessen widersetzen und andere, die ihnen Obdach und Unterstützung geben in diesem Akt der Rebellion.

Der Wert der Erinnerungen

Das Motiv des Romans ist nicht neu. Viele Geschichten drehen sich um den Wert der Erinnerung und die Frage, was von uns übrig bleibt, wenn Erinnerungen verschwinden. Selten jedoch ist das so eindrücklich gelungen wie in diesem Roman. Die Verbindung zwischen Erinnerung, Freiheit und Selbst ist in dieser Erzählung besonders faszinierend. Oft saß ich nach der Lektüre noch da und habe an den Metaphern “herumgekaut”, Bedeutungen abgewogen. Welchen Wert haben Erinnerungen für mich persönlich? Woraus entsteht Bedeutung? Wie entwickelt sich das im Laufe der Zeit?

Ich habe jetzt schon mehrfach Berichte gelesen, die den Roman in eine Reihe mit klassischen Dystopien wie “Schöne neue Welt” oder “1984” stellen. Für mich hat er ein ähnliches Gewicht, fasziniert aber zusätzlich durch die Fülle der Bedeutungsebenen. Er lässt sich sozial und politisch interpretieren aber auch ganz persönlich lesen.

Unwillkürlich musste ich immer an die Probleme einer alternden Gesellschaft denken. Fühlt es sich für demente Menschen vielleicht ein klein wenig so an? Das Dinge und Bedeutungen Stück für Stück verloren gehen? Und viel alltäglicher: wieviel meiner eigenen Geschichte verliere ich schon, weil ich im Laufe der Jahre immer mehr vergesse. Jedes Erinnern ist ja ein aktiver Prozess, ich erinnere nicht an das ursprüngliche Geschehen, sondern hole meine “innere Kopie” davon hervor. Diese wird abgegriffen und geschliffen, verändert sich je nachdem mit welchem Fokus ich auf meine Erinnerungen blicke. Was ist dann wirklich Teil meiner Persönlichkeit? Ein Thema über das sich lang sprechen und noch länger nachdenken lässt.

“Ich bemühte mich zu schlafen, aber all diese Sorgen stiegen wie Luftblasen in mir auf. Sie machten sich in meinem Herzen breit, ohne irgendwann zu zerplatzen.”

Die Leichtigkeit der Erzählung

Die Erzählung ist ruhiger angelegt als das in vielen westlichen Romanen sonst üblich ist. Die Spannung ergibt sich aus den Reaktionen der Figuren auf den Verlust der Dinge, nicht aus einer irgendwie dramatisch konzipierten, klar eskalierenden Konfliktsituation. Obwohl das Vergessen voranschreitet, bleibt die Handlung in einem Fluss, der sich ganz natürlich fortbewegt. In der größten Dramatik findet sich immer noch Platz für alltägliche, harmonische Szenen. Erst ganz am Ende gibt es einen Moment beim Lesen, in dem die Schwere des Geschehens mich mit voller Wucht traf.
Übrigens werden im Verlauf der Handlung parallel immer wieder Abschnitte einer Geschichte eingeschlossen, welche die Hauptfigur schreibt. Diese Geschichte entwickelt sich aus einer zarten Liebesgeschichte in einen Alptraum, vollzieht ungewöhnliche Wendungen und steht irgendwie gegenläufig zur Haupthandlung des Buches.

Alles in allem ist „Die Insel der verlorenen Erinnerungen“ ein Buch das faszinierend und irgendwie hypnotisierend wirkt, spannend zu lesen ist und dabei eine Fülle an Themen und Deutungen bietet. Für Fans japanischer Literatur und diejenigen, die es werden wollen.

“Aber in einer Welt, die auf dem Kopf steht, ist es nicht ungewöhnlich, wenn einem Dinge, die man sein Eigen wähnt, abhandenkommen.”

„Insel der verlorenen Erinnerungen“ von Yoko Ogawa, übersetzt von Sabine Mangold, erschienen im liebeskind Verlag, 350 Seiten

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