Von Schwestern, die sich verlieren


Desiree und Stella sind Zwillingsschwestern, sie haben die wohl engste Verbindung, die zwischen zwei Menschen möglich ist. Bis zu dem Tag jedenfalls an dem Stella aus Desirees Leben verschwindet, wortwörtlich ihre alte Haut abwirft und ein neues Leben beginnt.

Was ist passiert?

Die Schwestern wachsen in einem verschlafenen, hauptsächlich Schwarzen Ort in Lousiana auf. Ein Ort, in dem Schwarze mit hellerer Haut höher angesehen und die Familien sehr stolz auf ihre besonders hellhäutigen Kinder sind. Diese Form des Colorismus spielt aber für die Mädchen zunächst kaum eine Rolle. Desiree und Stella stehen in der Hierarchie des kleinen Ortes weit oben. Manchmal gibt sich Stella in der benachbarten Stadt als Weiße aus und genießt die Freiheiten, die das mit sich bringt. Sie ist white passing.

Was ist White Passing?

 

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White Passing meint also die Zuschreibung Schwarzer Menschen als Weiß. Ein Umstand, der den Betroffenen in bestimmten Situationen helfen kann die Privilegien weißer Menschen zu nutzen. Wichtig ist dabei aber, dass einen Unterschied zwischen “White Passing” und den grundsätzlichen Privilegien weißer Menschen gibt. Zwar können Menschen als White Passing in einzelnen Situationen die Privilegien weißer Menschen besitzen (zum Beispiel keine Anfeindungen und Diskriminierungen erleben, nicht angestarrt werden etc.), den strukturellen Benachteiligungen Schwarzer Menschen können sie allerdings dadurch nicht entkommen.

Ein bekanntes Motiv, neu aufgegriffen

Bereits in ihrem 1929 erschienen Roman “Seitenwechsel” (im Original “Passing”) beschreibt Nella Larsen das Phänomen des White Passing. Sie ist als Tochter eines Schwarzen und einer dänischen Mutter selbst in der Situation wechselnde soziale Zuschreibungen zu erleben. In Ihrem Roman erzählt sie die Geschichte von zwei Schwestern, von denen die eine beginnt ein Leben als Weiße zu führen und einen reichen Mann heiratet. Die andere Schwester heiratet einen Schwarzen Arzt und engagiert sich in der Bürgerrechtsbewegung.

“Die verschwindende Hälfte” von Brit Bennet liefert eine moderne Adaption dieses Motivs. Nachdem Stella verschwindet verfolgen wir, wie das Leben der Schwestern immer weiter auseinanderdriftet. Die Autorin spielt gekonnt mit dem Thema, jedoch ohne es zu definieren oder als Theorie zu benennen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wir erleben ganz konkret, wie die Lebenswege von Desiree und Stella sich unterscheiden. Und warum.

Hatten die Schwestern doch zu Beginn gleiche Bedingungen, landen sie schließlich in zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Desiree, die zunächst gemeinsam mit Stella der Langeweile des kleinen Ortes entfliehen wollte (bis sie von der Schwester verlassen wurde) kommt jung, pleite und alleinerziehend mit einer kleinen (und deutlich erkennbar schwarzen) Tochter zurück in ihre Heimat. Stella hingegen lebt als weiße, heiratet einen reichen Mann und lebt ein glückliches Leben. Bis auf die ständige Angst “entdeckt” zu werden, hat Stella ihr altes Leben komplett hinter sich gelassen.

Das ist wirklich spannend zu verfolgen. Wobei es natürlich sehr übliche Motive bedient, welche die Schwarzen Figuren in der wirtschaftlich schwächeren, perspektivloseren Situation darstellen. Dessen sollte man sich bewusst sein und die Geschichte auch entsprechend lesen. Aber es lohnt sich definitiv sie zu lesen!

Thematisch spannend, mit tollen Figuren

Im Roman geht es um Familie, Identität und Ethnie, Herkunft und Heimat. Am Beispiel der beiden Mädchen werden Fragen thematisiert, die mich nicht mehr loslassen. Wie wirkt sich unsere Herkunft auf die eigene Identität aus? Was macht meine Identität überhaupt aus? Welchen Weg hätte das eigene Leben nehmen können, hätte man sich an einigen Stellen anders entschieden? An dieser Stelle bietet “Die verschwindende Hälfte” viele tolle Ansätze, über die es sich nachzudenken und zu sprechen lohnt.

Toll ist, wie die Autorin im Verlauf der Handlung über die Töchter der Schwestern thematisch alles wieder verbindet. Sie schafft es alle losen Fäden aufzunehmen und die Handlung stimmig zusammenzuführen.

Besonders begeistert hat mich diese Liebe zum Detail auch bei den Figuren. Die Autorin schafft es, einzigartige und interessante Lebensgeschichten zu erstellen. Ohne dass die Protagonisten wirken als würden sie nur genutzt werden um billig Drama zu erzeugen. Der Mann von Desirees Tochter zum Beispiel ist trans. Seine Situation wird jedoch nur am Rande skizziert, ganz ohne übliche Klischees zu bedienen. Die Autorin geht in wenigen Sätzen auf die Probleme ein, die ein Leben als trans Person in den 1980ern mit sich bringt, zeigt ihn aber primär als liebevollen Partner und engagierten Fotografen.
Und auch die übrigen Figuren werden mit ihren Leidenschaften, Zweifeln und Träumen portraitiert, nicht als Token für ihre jeweilige Rolle.

Eine klare Leseempfehlung

Insgesamt ein Buch, das mir großen Spaß gemacht hat und welches mich dazu gebracht hat, noch eine ganze Menge zu recherchieren. Ich liebe es, wenn Bücher uns derart bewegen und es schaffen den eigenen Horizont zu erweitern, die Perspektiven zu wechseln.

Einzig über die Übersetzung habe ich keine näheren Informationen. Sie liest sich flüssig und atmosphärisch toll. Die Autorin selbst ist Own Voice, ich hoffe dass die Übersetzung mit den entsprechenden Begrifflichkeiten sensibel genug dem Thema gerecht wird.

Übrigens: Wer sich für Ursprung und Hintergründe des Phänomen White Passing interessiert, kann in folgendem Video umfangreichere Erklärungen dazu finden (das Video ist englisch).

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“Die verschwindende Hälfte” von Brit Bennet, übersetzt von Isabel Bogdan und Robin Detje, erschienen im Rowohlt Verlag, 416 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch bei genialkokal, Hugendubel oder Bücher.de kaufen. Danke!

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