Bist du gut zu dir?


Ich hab sie alle gemacht: die Dankbarkeitstagebücher, die Atem- und Entspannungsübungen, die Meditationen, Schaumbäder und Gesichtsmasken. Hätte meine Skoliose es nicht verhindert, wäre ich auch auf den Yoga-Zug aufgesprungen (ich habe schon “Yoga für Ungelenkige” gegoogelt, nur um dann an der Startpose zu scheitern…). Naja.

Klar, manches davon hat mir gut getan. Sich täglich kleine Dinge bewusst zu machen, die gut und wertvoll sind, kann die Perspektive positiv verschieben. Meditation kann zumindest kurzzeitig die Gedanken ordnen.
Aber all diese Techniken können und sollen keine Garantie für absolutes Wohlbefinden sein. Sie sollen nicht als schnelles Pflaster dienen, um uns wieder gut zu fühlen und dann doch weitermachen zu können wie vorher.

Ich bin ein Kind des Kapitalismus und habe leider Leitsätze verinnerlicht, die sich darauf beziehen, dass sich auch unsere Freizeit maximal “lohnen” muss. Das Zeit nicht verschwendet werden darf. Immerhin ist sie so knapp, ihre Nutzung muss optimiert werden. Aber was ist “lohnend” und wer definiert das? Ist “Wellness” nicht auch nur ein Marketingschlagwort, um uns noch mehr unnützes Zeug verkaufen zu können?

Und wie lässt sich Selbstfürsorge mit Aktivismus zusammenbringen? Wie kann ich mich entspannen, wenn ich ständig das Gefühl habe, dass die Welt um mich herum in Flammen steht? Muss ich nicht Aufmerksamkeit für wirklich wichtige Themen schaffen, aufklären und erklären? Am besten 24 Stunden am Tag? Wie kann ich mir da Zeit nehmen, um in der Jogginghose (ich nenne sie liebevoll Lesehose, keiner von uns beiden ist jemals gejoggt) auf dem Sofa zu liegen und Trash TV zu gucken? Oder mit Wein und Hörbuch zu Puzzlen ohne die Nachrichten gelesen zu haben?

Svenja Gräfen schreibt in “Radikale Selbstfürsorge jetzt!” eine feministische Perspektive auf genau diese Themen. Sie schreibt über Wellness und Achtsamkeit und warum es so wichtig ist, gut zu uns zu sein. Ich habe mich bereits im ersten Kapitel mehr als ein Mal ertappt gefühlt. Weil ich trotz all der Bemühungen um “Wohlbefinden” doch einfach oft genug nicht gut zu mir bin.

Genau das ist es, worauf die Autorin den Fokus legt. Was können wir tun, um gut zu uns zu sein und für uns zu sorgen? Im Großen und Ganzen, so sagt sie, schaffen wir das ja gar nicht schlecht. Zumindest halten wir unseren armen Körper jeden Tag irgendwie am Leben. Aber wir verbieten uns Pausen, weil wir meinen dafür erst etwas leisten zu müssen. Wir erliegen dem Druck des Aktivismus bis zum emotionalen Ausbrennen.

Ich habe während der Lektüre oft innegehalten und versucht mir ihre Sätze einzuprägen. Weil sie so klar und logisch und irgendwie befreiend sind. Zunächst hat mich gestört, dass die Autorin oft sagt was man alles “nicht muss”. Fast verzweifelt habe ich mich gefragt, was ich denn nun tun muss, für diese radikale Selbstfürsorge. Aber Svenja Gräfen möchte gar keine abschließende Antwort geben, sondern schlicht eine Ermutigung sich unseren Bedürfnissen zu nähern.

Sie lädt dazu ein sich auszuprobieren, den eigenen Gefühlen Raum zu geben und sich Dinge zu erlauben. Das macht Mut die eigenen Gewohnheiten und Bedürfnisse zu erforschen beziehungsweise zu hinterfragen. Ich habe jetzt kein neues Patentrezept, wie Selbstfürsorge für mich aussehen wird und habe auch das Abo für die Meditationsapp nicht sofort gekündigt. Aber ich habe jetzt den stärkeren Wunsch mich gut zu behandeln. Ab und an innezuhalten und zu schauen was wir gerade brauchen, auch um wieder etwas geben zu können.

Gleich besuche ich übrigens einen Onlinevortrag im Museum. Weil ich seit Monaten Sehnsucht nach Museen und Kultur habe und das Städelsche Museum in Frankfurt so tolle digitale Vorträge und Führungen anbietet. Ob das gute Selbstfürsorge ist weiß ich nicht, ich freu mich aber drauf…

 

„Radikale Selbstfürsorge jetzt!“ von Svenja Gräfen, erschienen bei Eden Books, 189 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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