Leben in der Katastrophe
Wir bewundern an den Werken großer Autor*innen häufig besonders ihre Zeitlosigkeit. Wenn wichtige Botschaften und Themen auch 50, 100 oder sogar 200 Jahre später noch verstanden und Leser*innen berührt werden, ist das eine ganz besondere Kunst.
Der 2018 im Original erschienene Roman “New York Ghost”, der chinesisch amerikanischen Autorin Ling Ma, stellt in meinen Augen das faszinierende Gegenkonzept zu solch zeitlosen Werken dar.
Ich habe selten einen Roman gelesen, der so sehr “jetzt” ist, wie “New York Ghost”. Viele Rezensent*innen halten sich daran auf, dass im Roman eine globale Pandemie beschrieben wird. Eine Pandemie, die ihren Ursprung in China hat und dann weltweit das soziale Leben zum Stillstand bringt. Aber das meine ich gar nicht. Es geht mir weniger um die seherischen Fähigkeiten der Autorin, als um ihren Erzählstil und die Welt, die sie beschreibt.
Denn “New York Ghost” ist ein Roman der jetzt spielt. So sehr jetzt, dass ich mich wirklich frage, ob die vielen genannten Produkte, Apps und Persönlichkeiten in 30, 50 oder gar 100 Jahren für Leser*innen noch irgendeine Relevanz haben werden. Und auch der Ton der Erzählung ist sehr gegenwärtig. Der Roman liest sich wie ein (sehr guter) Blog oder eine Netflix-Serie. Dadurch fühlt sich alles unheimlich unmittelbar und nah an.
Leben in der Katastrophe
Die Pandemie im Roman hat, anders als die Covid19-Pandemie, das komplette soziale und wirtschaftliche Leben nicht nur gebremst oder verändert, sondern komplett zum Erliegen gebracht. Die Autorin beschreibt wie eine junge Frau in dieser kaputten Welt umherstreift, Nahrung sucht und trotzdem weiter Fotos für ihren Blog macht. Zunächt scheint sie es völlig zu verweigern die Katastrophe zu akzeptieren.
Später schließt sie sich anderen Überlebenden an. Der Roman erinnert dann stark an verschiedene Zombie- oder Katastrophenfilme.
Trotzdem ist die beschriebene Pandemie sehr speziell. Erkrankte bekommen ein Fieber, das ihr Gehirn angreift und sie wie in Trance immer wieder die selben sinnlosen Dinge wiederholen lässt. Wieder und wieder den Tisch decken oder in einem Geschäft T-Shirts zusammenlegen. Ohne Ende.
“Anstatt sie durch dieselben Routinen kreisen zu lassen, während sie immer weiter degenerieren, befreien wir sie aus ihrer Misere.”
Die Überlebenden beschließen, dass dieses Leben nicht auszuhalten ist und töten die Fiebernden. Dieser “Gnadentod” soll sie vor ihren ewigen Wiederholungen retten. Aber diese Pandemie, die Ling Ma beschreibt, klingt an dieser Stelle doch eigentlich nicht nach einer Krankheit wie Corona. Vielmehr spiegelt es unseren Alltag in einem globalisierten, kapitalistischen Wirtschaftssystem wider.
In dieser Hinsicht verbinden sich Form und Inhalt des Romans perfekt. Schließlich stehen die, zu Beginn schon beschriebenen, wirklich häufig vorkommenden Hinweise auf Produkte und Apps auch symbolisch für dieses System. Das passt dazu, dass in den Rückblenden zur Vergangenheit unserer Protagonistin Kapitalismus und Arbeitsleben eine besondere Bedeutung haben.
“Sie machten einem weis, es gäbe so viele Möglichkeiten, aber die meisten dieser Möglichkeiten hatten damit zu tun, etwas zu kaufen: Abendessen, Cocktails, den Eintritt zu einem Nachtclub.”
So wird eine Geschichte von Konsum, Kapitalismus, Globalisierung und Migration erzählt, die über eine Pandemiegeschichte weit hinausgeht. Eine Empfehlung für alle pandemiegeplagten Leseratten.
„New York Ghost“ von Ling Ma, übersetzt von Zoe Beck, erschienen im Verlag CulturBooks, 357 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!
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