Every ist everywhere


Am Montag, den 04.10.2021, waren Facebook, Instagram und Whatsapp für mehrere Stunden nicht erreichbar. Ein einfacher Konfigurationsfehler hatte dazu geführt, dass kaskadenartig sämtliche Server des Konzerns ausfielen. Millionen Menschen konnten nicht auf die beliebten sozialen Netzwerke zugreifen. Selbst Facebook-Mitarbeiter bekamen den Ausfall real zu spüren. Sie konnten zum Teil ihre Büros nicht mehr betreten oder verlassen. Denn auch die Freischaltung der Türschlösser auf dem Facebook-Campus läuft über die eigenen Server. Der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verlor durch sinkende Aktienkurse 6 Milliarden Dollar in nur 7 Stunden.

Das Timing des Ausfalls hätte beinahe nicht besser sein können. Denn heute, am 07.10.2021, erscheint “Every”, der neuste Roman von Dave Eggers. Als Nachfolger zum Erfolgsroman “Der Circle” beschäftigt sich auch “Every” mit der Macht sozialer Netzwerke und monopolistischer Internetkonzerne. Eine Macht, die wir am Montag gerade deutlich zu spüren bekommen haben.

Eine spannende, gar nicht so ferne Dystopie

Every, früher Circle, ist ein Unternehmen der Superlative. Man kann es sich vorstellen wie eine Mischung aus Facebook, Google und Apple. Nachdem das Unternehmen dann auch noch das größte Onlineversandhaus aufgekauft hat, ist ein Konzern mit unvorstellbarer Macht entstanden. Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die beginnt in diesem Milliardenkonzern zu arbeiten und beinahe von ihm verschluckt wird.

Klingt insgesamt ziemlich ähnlich wie bei “Der Circle”? Ja, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Anders als Mae Holland in “Der Circle” hat sich Delaney Wells nicht unbedarft und ohne Hintergedanken bei Every beworben. Unsere Hauptfigur ist eine große Kritikerin dieses Monopols und möchte es von innen zerschlagen.

Sie sucht nach den Schwachstellen des Unternehmens. Den Punkten, in denen Everys Macht doch endet und die Bevölkerung sich gegen Bevormundung und Überwachung wehrt. Diese Versuche sind spannend zu verfolgen und bringen den Roman in wirklich atemlosen Tempo voran. Dadurch liest er sich auch super weg. Die knapp 600 Seiten habe ich in gut zwei Tagen verschlungen. Aber was bleibt zurück?

Ein bisschen zu viel schwarz- weiß

Im Roman sind die Sympathien klar verteilt: es gibt die technikhörigen, super empfindlichen Anhänger von Every und die stolzen, unabhängigen Trogs. Trogs werden die Technikkritiker genannt, die in unüberwachten Häusern und Wohnvierteln leben und sich den Netzwerken von Every weitestgehend entziehen.

Die Kritik an übermächtigen Monopolen, die sich Steuern und Verantwortung entziehen, teile ich. Aber die satirisch überzeichneten Extreme schlagen für mich in die falschen Kerben. Die Anhänger von Every werden immer wieder dadurch charakterisiert, dass sie überspannt und empfindlich sind. Sie übertreiben alles vom Umweltschutz bis zur Höflichkeit, betreiben Selbstoptimierung bis zur Erschöpfung und sind natürlich allesamt digital vereinsamt.

Klar, viele Strömungen bergen in ihrem Extrem Probleme. Aber hier werden die vielen Vorteile von Vernetzung und digitaler Teilhabe unter den Tisch fallen gelassen und ins Lächerliche gezogen. Lachhaft und peinlich sind außerdem immer nur die, die mit immer extremeren Maßnahmen versuchen die Umwelt zu retten. Nicht diejenigen, die unsere Welt erst in den aktuellen Zustand gebracht haben. Da macht es sich der Autor für meinen Geschmack ein bisschen zu einfach. Mehr Grautöne hätten dem Roman gut getan.

Und der Druck steigt

In einem anderen Aspekt ist “Every” erfreulicherweise jedoch subtiler als noch “Der Circle”. Im ersten Teil verfolgten wir unmittelbar die Auswirkungen von Selbstoptimierung und Druck durch Social Media. Nun wird dies primär durch verschiedene Nebenfiguren symbolisiert. Zwar taucht auch Delaney Stück für Stück tiefer in die Welt von Every ab, die Metamorphose ist hier aber nicht ganz so brutal.

Stattdessen dient Hund der Hauptfiguren als Metapher für die Menschen in diesem von Every geschaffenen System. Seine Freiheiten werden immer weiter beschränkt. Schließlich nagt er sich aus Verzweiflung die Pfoten ab und kann nur noch traurig aus der Ferne sein altes Leben betrachten. Gleichzeitig gibt es mit Kiki eine Figur, die dem zunehmenden Druck innerhalb des Unternehmens ein Gesicht gibt.

Ein Mann der Frauen schreibt, die Männer anschauen

Ein Aspekt, den ich übrigens schwer einordnen kann, ist die beschriebene Körperlichkeit in „Every“. Dave Eggers schreibt seine Figuren in absurd bunte, absurd enge Kleidung. So eng, dass Fortpflanzungsorgane ein ziemliches Thema werden. In einer ersten, echt unangenehmen Szene beobachtet die weibliche Hauptfigur einen an ihr vorbeigehenden “duftenden Penis” (S. 83). Kein Witz, das hab ich mir nicht ausgedacht. Bei einer Figur, die sonst sehr wenig sexuell portraitiert wird, hat mich dieser Fokus doch schwer gewundert. Zumal ich bei Penisduft nicht nur an gute Gerüche denke.

Egal. Auf diese enge Kleidung, von der man offensichtlich kaum die Augen lassen kann, wird später jedenfalls immer wieder eingegangen. Schließlich wird sie sogar einer bedeutenden Persönlichkeit zum Verhängnis. Auch hier lesen wir leider Extreme, die für mich einen komischen Beigeschmack haben. Werden da normale Interaktionen mit sexuell übergriffigem Verhalten vermischt? Naja, kein Punkt, der den Roman voranbringt.

Every ist längst da

Insgesamt ist “Every” dennoch ein spannender Roman zu einer aktuellen Thematik. Er hat leider einiges verschenkt, aber bringt auch sehr wertvolle Abschnitte mit. Es gibt zum Beispiel ein super spannendes, wichtiges Kapitel über die Entwicklung von Smart Speakern (Alexa, Siri und Co). Wie Unternehmen uns diese Abhörgeräte in die eigene Wohnung geschickt und Stück für Stück moralische Grenzen einfach übergangen haben, hat Dave Eggers super skizziert. Diese Probleme sind real greifbar und schlimm genug, ganz ohne Übertreibungen in bunten Spandex-Klamotten.

In Amerika war “Every” übrigens in den ersten sechs Wochen ausschließlich im unabhängigen Buchhandel bestellbar. Auf Amazon wurde der Roman erst später gelistet. Eine Botschaft und Erinnerung daran, das Monopol der Internetkonzerne nicht mehr unhinterfragt zu fördern.

 

„Every“ von Dave Eggers, übersetzt von Klaus Timmermann, Ulrike Wasel, erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, 592 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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