Abgebrochen: Unser Teil der Nacht


Ich rezensiere hier längst nicht alle Bücher, die ich lese. Wenn ein Buch nichts mit mir macht, lasse ich es einfach still und heimlich unter den Tisch fallen (metaphorisch gesprochen, ich werfe natürlich keine Bücher). Gerade bei denen, die ich abgebrochen habe, ist es jedes Mal ein Abwägen. Aber über „Unser Teil der Nacht“ muss ich einfach sprechen. Die 557 Seiten, die ich gelesen habe, haben durchaus gereicht um mir einen Eindruck über den Roman zu geben. Und er hat sehr wohl etwas mit mir gemacht!

Meine Lektüre hat genügt, um den Stil und die Figuren gut kennenzulernen und zu entscheiden, dass ich das Buch nicht beenden möchte. Obwohl ich das Buch schon zu gut zwei Dritteln beendet hatte, war es für mich an diesem Punkt einfach genug. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass es anderen Leser*innen besser liegen wird.

Zunächst hat ja auch bei mir alles sehr gut angefangen. Die ersten knapp dreihundert Seiten des Romans habe ich wie im Rausch gelesen. Ich musste mich richtiggehend bremsen, um nicht in einem Rutsch durchzufliegen. Dachte ich.

Der Einstieg hat einen unheimlichen Sog. Es wird die Geschichte von Juan und seinem Sohnes Gaspar erzählt, die quer durch Argentinien fahren. Sie scheinen vor einer großen Gefahr zu fliehen. Zunächst ist unklar wohin und vor wem sie fliehen. Erst nach und nach wird die Geschichte ihrer Familie, eines seltsamen mystischen Kultes und auch der Situation in Argentinien für die Leser*innen immer klarer. Eine ganz realistische, spannende Reise und einige übernatürliche Elemente verbinden sich in diesen Abschnitten wunderbar.

Ich habe es außerdem geliebt, die Geschichte einer chronisch kranken, bisexuellen Hauptfigur zu lesen, die einfach düster und cool wirkt. Juan hat einen angeborenen Herzfehler und muss große Anstrengungen meiden. Er ist sehr androgyn und dabei so schön, dass er von Frauen und Männern gleichermaßen umschwärmt wird. Diese Aura des geheimnisvollen und die Art wie über diese zentrale Figur so viele Aspekte der Handlung erst Stück für Stück enthüllt werden, hat mich absolut gefesselt.

In meinen Augen ist „Unser Teil der Nacht“ auch kein handwerklich schlechtes Buch. Aber eines das mich als Leserin dann doch abgeschreckt hat. Denn etwa ab knapp der Hälfte kippt die Stimmung des Romans. Aus düster wird eklig, aus geheimnisvoll zäh.

Ich dachte wirklich, dass ich einen Hang zum Horror habe. Aber vermutlich liegt mir eher der glatte Stephen-King-like Hollywood Horror. „Unser Teil der Nacht“ hat mich irgendwann tatsächlich geekelt. Die Szenen waren so bildhaft und düster, die Details so brutal, dass ich es nicht mehr aushalten konnte und (um ehrlich zu sein) auch nicht mehr wollte. Denn ab der Mitte geriet für meinen Geschmack die Story zu sehr in den Hintergrund.

Das ist wirklich schade, weil gerade der Umgang mit Krankheit und Behinderung in diesen Roman vielversprechend war. Zwar werden sie schon teilweise eher als Defizite benannt, sind aber eben auch Eigenschaften spannender, interessanter Figuren. Eine Szene darüber, wie ein Mädchen erst glühende Wut, dann große Freude über ein Hilfsmittel gegen ihre Phantomschmerzen empfindet, hat mich zum Beispiel wirklich begeistert.

Eigentlich finde ich es spannend, wenn Erzählformen gewählt werden, die von den klassischen Heldenreise und ähnlichen Mustern abweichen. Aber in „Unser Teil der Nacht“ hat es mich dann doch abgeschreckt. Irgendwann habe ich zu sehr das Interesse an der Handlung verloren, als dass ich mich dem brutalen Ekel weiter ausliefern wollte.

Die Autorin konnte nicht begreiflich machen, worin die Motivation ihrer Figuren besteht. Es scheint als entwickelt sich die Geschichte des Sohnes zu einem lauen Abklatsch von der Juans. Auch die Beschreibungen des Kults, seiner Sagen und Mysterien gleitet immer mehr ins absurd Eklige ab. Vor allem wenn das Quälen und Misshandeln von (behinderten?!) Kindern als rituelle Methode beschrieben wird, kann ich meinen Widerwillen nicht mehr verbergen.

Es wird Leser*innen geben, die sich in diesem besonderen Setting wohl fühlen und einen Faible für die düsteren und gruseligen (bis hin zu brutalen und ekligen) Szenen haben. Ich hatte mir super viel von dem Buch versprochen und war zunächst völlig „drin“. Aber je mehr ich las, desto mehr wurde mir das Ziel des Romans unklar. Es darf ja auch durchaus mal düster und brutal werden, aber das muss ja irgendwo hin führen. Mittlerweile frage ich mich, ob die Grausamkeit da nur noch ein Selbstzweck ist.

In der übernächsten Woche habe ich Streaming Tickets für eine Lesung der Autorin im Literaturhaus Frankfurt und bin schon gespannt auf ihre Erläuterungen zum Roman. Manchmal hilft ja auch eine neue Perspektive auf eine Geschichte, um doch wieder darin gefangen zu werden. Aber wenn nicht noch inhaltlich der Funke überspringt, werde ich das Buch wohl endgültig in bessere (und nervenstärkere!) Hände abgeben.

 

„Unser Teil der Nacht“ von Mariana Enriquez, übersetzt von Silke Kleemann und Inka Marten, erschienen im Tropen Verlag, 821 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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