Der Duft von Eis und Erinnerungen


Der Duft von frisch gemähtem Gras, Sonnencreme oder Chlor erinnert mich an die sonnigen Sommertage meiner Kindheit. Kaum etwas kann so direkt und stark individuelle Erinnerungen hervorrufen, wie passende Gerüche. 

In „Der Duft von Eis“ ist es Ryoko, die den Erinnerungen ihres verstorbenen Freundes Hiroyuki „nachschnüffelt“. Dieser begeht eines Tages völlig ohne Vorwarnung Suizid. Er wird leblos an seinem Arbeitsplatz gefunden, ohne eine Botschaft zu hinterlassen.  Der junge Parfümeur starb, obwohl er kaum Anzeichen einer Depression zeigte.

Im Verlauf der Handlung versucht seine Partnerin die Gründe für seinen Tod herauszufinden. Der Willkür und Sinnlosigkeit irgendetwas abzuringen. Es zeigt sich allerdings, dass Hiroyuki generell wenig offen zeigte: dass er Erlebtes oft weder mit seiner Partnerin noch seiner Familie teilte. Sein Charakter, scheinbar so vertraut, bleibt für Ryoko ziemlich im Dunkeln. 

Obwohl das jetzt so düster klingt, sucht man den klaren Spannungsbogen, die übliche Heldenreise, vergeblich. Hiroyukis Tod bietet natürlich ein Mysterium, aber wir haben hier, wie im echten Leben, einfach kein „dieses Problem müssen wir lösen, dann wird alles gut“-Szenario. 

Ich habe den Roman zu Beginn noch in der Hoffnung gelesen, dass doch irgendetwas diesen unsäglichen Todesfall eindeutig „erklären“ müsste, aber dann gemerkt dass der Weg dahin viel wichtiger ist. 

Die traurige, stille, aber eben auch liebevolle und träumerische Atmosphäre. Oder die vielen schönen und tragischen Erinnerungen, die Ryoko im Laufe der Zeit ausgräbt. 

Es geht darum, wie uns unsere Erinnerungen zu der Person machen, die wir sind. Auch wenn andere nichts davon wissen, bekommen sie Facetten unserer Erinnerungen durch unser Verhalten mit. Dadurch sind alle Figuren im Roman für sich genommen spannend. Obwohl sie weder zu Held*innen noch Schurk*innen taugen. Es sind schlicht Menschen mit nachvollziehbaren Beweggründen, auch wenn einige sympathischer sind als andere.

Bedrückend war vor allem die traurige Familiengeschichte von Hiroyuki. Die Kälte einer Mutter, die von Ehrgeiz getrieben ihr Kind von sich jagt und dann in Selbstmitleid und dem stumpfen Glanz seines Ruhmes badet, war schwer zu ertragen. 

Das alles ist trotzdem, man möchte beinahe sagen „wie immer bei Yoko Ogawa“, wunderschön erzählt. Die fast traumartigen Szenen und der magische Realismus bestimmter Abschnitte lässt manchmal verschwimmen, was die Protagonistin wirklich erlebt hat und was nur ihrer Trauer entsprungen ist. Einfach toll.

Auch wenn „Insel der verlorenen Erinnerungen“ vielleicht etwas leichter zugänglich ist, Motive und Themen offener Preis gibt. „Der Duft von Eis“ wirkt fast wie ein Rätsel und ich konnte auch diese Geschichte nicht zur Seite legen. Sie wirkt so unnatürlich, unwirklich und gleichzeitig ist alles an ihr so schmerzhaft realistisch. Nicht alles wird immer wieder gut, man kann Menschen nicht unbedingt verstehen, aber die Liebe bleibt trotzdem echt.

 

„Der Duft von Eis“ von Yoko Ogawa, übersetzt von Sabine Mangold, erschienen im Liebeskind Verlag, 264 Seiten.

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