Rezension: Großer Bruder von Lionel Shriver


Die Beschreibungen von „Großer Bruder“ und alle Artikel über dieses Buch haben mich von Anfang an neugierig gemacht und begeistert. Schon seit dem Erscheinungstag habe ich es unbedingt lesen wollen. Ich kann nicht genau erklären, warum ich so lang gewartet habe. Fakt ist: ich hätte es sofort lesen sollen. Diesen Fehler mache ich bei Büchern von Lionel Shriver in Zukunft nicht mehr!

grosser_bruder_lionel_shriver„Großer Bruder“ von Lionel Shriver
Piper Verlag
336 Seiten
15,99 € (E-Book) (ein Taschenbuch für 9,99 € erscheint am 08.06.2015!)

Ein Leben lang hat Pandora ihren großen Bruder bewundert: Edison, der berühmte Jazzmusiker, die strahlende Gestalt, ein großer gutaussehender Mann. Sie war immer nur die kleine, unscheinbare Schwester. Der Mann, den sie dann bei seinem Besuch vom Flughafen abholt, gleicht so gar nicht mehr dem Edison ihrer Erinnerung. Er wiegt inzwischen über 150 Kilo und hat die Freude und den Enthusiasmus an seiner Musik völlig verloren. Plötzlich scheinen die Rollen vertauscht: Pandora ist die Stärkere und steht für ihren Bruder ein. Sie nimmt ihn zuerst als Gast in der Familie auf, beschließt dann aber noch einen Schritt weiter zu gehen. Pandora zieht mit Edison in ein Apartment und unterzieht ihn (sehr zum Missfallen von ihrem Ehemann Fletcher) einer radikalen Diät.

„Großer Bruder“ ist für mich nicht nur ein unterhaltsamer, toll geschriebener und spannender Roman sondern eine große Metapher zu aktuellen Themen. Es geht um Schlankheitswahn und Körperkult, um die Wichtigkeit von Aussehen oder inneren Werten. Die Protagonisten und ihre Reaktionen auf Edison zeigen im Kleinen, wie übergewichtige Menschen in unserer Gesellschaft behandelt werden. Das dabei zum Teil Edisons Charakter in den Hintergrund tritt und sich alles nur auf das Übergewicht fokussiert hat mir richtiggehend weh getan.

„Ich spürte, dass er sich einerseits nicht klein genug machen konnte, andererseits sein Umfang nicht groß genug war, um ihm ausreichend Schutz vor der Außenwelt zu gewähren.“

Spannend ist wie Pandora und ihr Ehemann, aber auch die Kinder dann ganz unterschiedliche Beziehungen zu Edison und der Problematik um sein Übergewicht aufbauen. Als Leser erlebt man dabei eine ganze Menge Hass und Konflikte, denn die Spannung zwischen Fletcher und Edison wird von Seite zu Seite stärker. Stück für Stück kommt trotzdem, gerade von Seiten der Kinder,  auch die Liebe zu Edison immer stärker wieder zum Vorschein.

„Aber sein Geist ist nicht fett, seine Seele ist nicht fett, seine Vergangenheit ist nicht fett, und sein Klavierspiel ist auch nicht fett.“

Insgesamt wirken aber  gerade Edison und Fletcher wie zwei völlig gegensätzliche Pole und versinnbildlichen Lebensentwürfe, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Fletcher ist dünn, fast mager, und von Sport besessen. Er versinnbildlicht Härte und Entsagung. Beruflich ist er kaum erfolgreich, sein Körper scheint die einzige Möglichkeit für ihn zu sein, sich zu beweisen.

„Er umgab sich gern mit der Aura des Asketen; Härte und Entschlossenheit, Disziplin und Entsagung, das waren die Attribute, mit denen er seinen eigenen Charakter beschrieben hätte.“

Edison ist Überschwang und Fülle. In der Vergangenheit war sein beruflicher Erfolg außergewöhnlich und maßlos, genauso maßlos wirkt nun auch sein Übergewicht. Trotz dieser beeindruckenden Hülle scheint Edison aber auch schwach und verletzlich.

„Dieselbe Größenordnung, in der er stets seinen Erfolg inszeniert hatte, würde auch sein Scheitern bestimmen.“

Obwohl Edison offensichtlich das “Problem” der Familie ist, baut sich auch beim Leser schnell eine große Sympathie für ihn auf. Gemeinsam mit Edison und Pandora durchlebt man die Hochs und Tiefs und wartet gespannt auf seine Verwandlung, die sich im Laufe der Diät vollzieht.
Lionel Shriver beherrscht es, schwierige Themen spannend und mit einer wunderschönen Sprache zu bearbeiten. Die Geschichte unterhält und regt gleichzeitig zum Nachdenken an. Zwischen den Zeilen und ganz offensichtlich liegen da nämlich viele kleine und große Wahrheiten, die dem Leser im Kopf hängen bleiben.
Nachdem die Geschichte kontinuierlich ihrem Höhepunkt entgegen geht, kommt der Schluss wirklich überraschend und hat mich irgendwie richtiggehend schockiert. Dann ist da ein wenig Ratlosigkeit, eine ganze Menge Stoff zum Nachdenken und ein Satz, der mir für immer bleibt:

„Der vielleicht größte Gefallen, den der Geliebte einem tun kann, ist, zu übersehen, was man selbst nicht übersehen kann.“

Unterm Strich ganz klar 5 von 5 Leseratten für ein Buch, das mich gefesselt und bewegt hat.

Das Buch in einem Tweet: „Großer Bruder“ ist Gänsehaut trotz ruhiger Handlung. Spannung und Anspannung innerhalb einer Familie im Angesicht eines gewichtigen Problems.

6 Comments

Add yours
  1. 1
    Kerstin Scheuer

    Hallo Alex,

    ich bin eigentlich kein Fan dieser „Diät-Romane“, weil ich dieses Thema etwas oberflächlich und langweilig finde. Ich lese lieber Romane, in denen der Protagonist charakterlich an Herausforderungen (welcher Art auch immer) wächst.
    So wie Du aber „Großer Bruder“ schilderst, ähnlich als Metapher und Kritik am aktuellen Körperkult, bekomme sogar etwas Lust auf dieses Buch. Wenn Wunschliste und SuB wieder etwas kleiner sind, werde ich mich bestimmt auch mal mit diesem Thema befassen.

    Liebe Grüße
    Kerstin

    • 2
      Alexandra

      Hallo Kerstin!

      „Großer Bruder“ ist ganz und gar kein Diät-Roman im klassischen Sinne. Hier geht es nicht darum, dass man nur dünn genug sein muss, um erfolgreich zu sein und geliebt zu werden… Romane mit diesen zweifelhaften Botschaften kann ich selbst auch gar nicht ausstehen.
      Ich selbst war sehr mitgerissen und fast verzweifelt während einiger Abschnitte der Handlung. Man selbst stellt sich die Frage wie man in so einer Situation reagieren würde? Ist es ein Liebesbeweis mit Edison abzunehmen und damit vielleicht seine Gesundheit zu retten oder ist es der eigentliche Liebesbeweis zu Edison zu stehen, auch wenn er fett ist? Wo geht das alles los? Mir hat es schier das Herz zerissen… kurz: ich bin noch zu keinem guten Schluss gekommen und kaue immer noch auf der Geschichte herum. Vielleicht dramatisiere ich das alles ein bisschen, mir hat diese Sicht der Thematik wirklich unheimlich gut gefallen!

      Viele liebe Grüße, ich empfehle dir wirklich dem Buch eine Chance zu geben wenn dich diese Thematiken interessieren, auch ein gutes Buch gegen die Oberflächlichkeit und Konformität ist „Binewskis – Verfall einer radioaktiven Familie“ die Charaktere sind extremer, das Grundproblem irgendwie ähnlich!

      Alexandra

      • 3
        Kerstin Scheuer

        Liebe Alexandra,

        vielen Dank für Deine ausführliche und engagierte Antwort.
        Jetzt kann ich mir schon viel besser vorstellen, um was es in diesem Roman tatsächlich geht.

        Auch dass Du „Binewskis“ erwähnst, macht mich neugierig. Diesen Roman habe ich nämlich auf meiner Wunschliste stehen.

        Kerstin

+ Leave a Comment