Rezension: Was ich euch nicht erzählte von Celeste Ng
“Lydia ist tot.” ein Satz, der eine eigentlich glückliche Familie ins Unheil stürzt und die ruhigen Fahrwasser ihres Lebens in einen wilden Strudel verwandelt. Lydia, ein fleißiges, scheinbar beliebtes und ausgeglichenes Mädchen, wird ertrunken auf dem Grund eines Sees aufgefunden. Es ist unklar, ob es sich um Mord, Selbstmord oder einen Unfall handelt. Auf der Suche nach der Wahrheit kommen auch die unausgesprochenen Konflikte und Ängste ihrer Familie zu Tage.
“Was ich euch nicht erzählte” wird als literarischer Kriminalroman beschrieben, war für mich aber eher eine fein analysierte, emotional komplizierte Familiengeschichte mit Krimielementen. Die Handlung im Buch fokussiert sich nicht allein auf Lydias Verschwinden, sondern beschreibt wundervoll detailliert wie es zu all dem kam. Denn vor der Geschichte der Kinder, steht immer die Geschichte von Müttern und Vätern. So erfahren wir, wie der Sohn chinesischer Einwanderer und die Tochter einer amerikanischen Mittelstandsfamilie zu einem ungleichen, unzertrennlichen Paar werden. Er vom Wunsch nach Normalität getrieben, sie beseelt von der Vorstellung in ihrer inneren Andersartigkeit endlich verstanden zu werden. Dieser unausgesprochene Konflikt brodelt unter der liebevollen Oberfläche der Beziehung von Anfang an.
Mit der Geburt der Kinder treten diese Diskrepanzen immer stärker zu Tage. Lydias Eltern ziehen und zerren das Mädchen in verschiedene Richtungen. Die vergrabenen Träume ihrer Mutter schweben als Hoffnungen über ihr, genauso wie die Kindheitstraumata des Vaters. Zwischen diesen widerstreitenden Erwartungen verschwindet Lydia stückchenweise, wird nur noch zur Projektionsfläche der Wünsche und Träume ihrer Eltern.
Das Buch ist unglaublich mitreißend verfasst und zog mich Stück für Stück immer tiefer in die verwinkelten und verwundenen Beziehungen der Charaktere. Jede Figur des Buches blättert uns nach und nach ihre Geschichte auf. Alle wirken so echt, facettenreich, so miteinander verwoben und verworren, dass das Buch einen fast hypnotischen Sog entspinnt. Die tragische Hauptfigur des Buches, die wir nur durch die Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern kennenlernen, scheint alle Familienmitglieder untrennbar miteinander zu verbinden. Sie steht unangefochten im Zentrum der Beziehungen. Durch ihren Tod durchzieht die Geschichte eine Atmosphäre tiefer Traurigkeit, aber auch Düsterkeit und Anspannung. “Was ich euch nicht erzählte” sind die Lücken, die der Tod der Tochter in der Familie hinterlässt.
Für mich war “Was ich euch nicht erzählte” ein wirklicher Genuss, sprachlich fein und atmosphärisch dicht. Obwohl sich die Handlung Großteils mit der Entwicklung und Beziehung ihrer Figuren beschäftigt, ist sie zu keiner Zeit ziellos oder ohne Spannung. Kaum zu glauben, dass es sich hier um das Debüt der jungen Autorin handelt. Ich möchte sofort mehr davon!
Ein wunderschönes Buch, ein Buch das traurig stimmt und nachdenklich macht. Es spricht von enttäuschten Hoffnungen und dem Druck von Erwartungen. Für mich ein ganz klares Highlight, 5 von 5 Leseratten!
Das Buch in einem Tweet:
„Was ich euch nicht erzählte“ nimmt mich tief gefangen, diese fein ge- und verwobenen Charaktere haben es mir angetan! @dtv_verlag Al
— Read Pack (@ReadPackBlog) 27. Mai 2016
“Was ich euch nicht erzählte” von Celeste Ng, übersetzt von Brigitte Jakobeit, dtv Verlag, 288 Seiten, 19,90 € (Hardcover)
Wenn euch “Was ich euch nicht erzählte” gefällt, könntet ihr auch Gefallen an einem meiner Lieblingsbücher “Was mit Kate geschah” von Catherine O’Flynn finden. Ein ähnlich literarischer, ungewöhnlicher Kriminalroman.
- Eine schöne Rezension zu “Was ich euch nicht erzählte” hat auch Mareike von Bücherwurmloch verfasst.
- Ebenfalls schön hat sich Christina auf Buchlese über das Buch geäußert.
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