Rezension: Geschichten von anderswo von Nicholas Shakespeare


Es ist kein Geheimnis, dass Nicholas Shakespeare zu meinen absoluten Lieblingsautoren gehört. Mit „Priscilla. Von Liebe und Überleben in stürmischen Zeiten.“ Hat er mich von seinem gefühlvollen und facettenreichen Stil überzeugt.

In „Geschichten von anderswo“ habe ich nun zum ersten Mal Kurzgeschichten dieses wunderbaren Autors gelesen. Oder sollte ich besser sagen Kurzromane? Denn irgendwie sind sie das, auf 10 bis 20 Seiten skizziert er fertige Romane: interessante Personen, eine Entwicklung teils über Jahrzehnte (zum Beispiel in „Das weiße Loch von Bombay“) und spannende Konflikte.

Als verbindendes Element der Geschichten tauchen Vögel in einigen Geschichten auf, werden beobachtet und dienen als Symbol unserer Sehnsüchte. Ein anderes wiederkehrendes Motiv ist das Attentat bzw. das Aufbegehren gegen ein sicheres Schicksal. Beides schöne beziehungsweise starke Bilder, einzig getrübt von der ungünstigen Zusammenstellung der Geschichten.

Aber dazu im Schnelldurchlauf mehr:

  • „Das weiße Loch von Bombay“ ist eine feine Geschichte über dekadente weiße Einwanderer in Bombay, dreht sich aber grundsätzlich um Eitelkeiten allgemein.
  • „Die Fürstin der Pampas“ ist meine absolute Lieblingsgeschichte in dieser Sammlung. Eine zarte Liebesgeschichte mit einer spannenden Wendung und einer moralischen Frage, über die ich noch eine Weile nachdenken musste. Aus dieser Geschichte hätte man ohne weiteres einen Roman machen können. So schön!
  • Mit „Broken Hill“ ist leider die gleichnamige (und bereits separat veröffentlichte) Novelle in dieser Sammlung veröffentlicht. Auf ungefähr 100 Seiten wird die Geschichte eines Attentats im Jahr 1915 erzählt: von Ausgrenzung, Gewalt und Gegengewalt. Wirklich beeindruckend aktuell, nur leider kannte ich diese Geschichte schon.
  • „Süßwasserangeln“ ist eine etwas platte Geschichte, wie eine aufgeschnappte Erzählung in einer Eckkneipe. Sie hat mich leider nicht berührt.
  • „Der Tod des Marat“ ist eine auf zwei Zeitebenen erzählte, kluge Geschichte über eine Frau, die das Schicksal selbst in die Hand nimmt.
  • „Der Castle-Morton-Nebel“ erinnert an eine alte Schelmengeschichte: wie Außenseiter mit Witz und Tücke das Glück auf ihre Seite ziehen.
  • Es ist mir bisher noch nie passiert, aber mit „Das Standbild“ musste ich eine Kurzgeschichte abbrechen. Eine unglaublich langatmige Geschichte über ein Reiterstandbild, vermutlich habe ich den tieferen Sinn nicht verstanden, aber mich hat es gar nicht gepackt.
  • „Der Goldbauchsittich“ ist eine Erzählung die im Gedächtnis bleiben wird und zum Ende des Buches noch einmal herrlich Hoffnung versprüht.

Die Auswahl der Geschichten war insgesamt wirklich durchwachsen. Als großer Fan von Nicholas Shakespeare wäre dieses Buch definitiv nicht meine erste Empfehlung, um diesen großartigen Autor kennenzulernen würden sich eher „Priscilla“ oder „Broken Hill“ eignen.

„Geschichten von anderswo“ von Nicholas Shakespeare, übersetzt von Georg Deggerich, erschienen im Hoffmann und Campe Verlag, 288 Seiten

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