Rezension: Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf von Monika Niehaus
Ich liebe Sachbücher im Bereich Psychologie und besonders über die spannenden Phänomene, die unser Gehirn mit sich bringt. So eine Reise durch Wahrnehmungen und Täuschungen hatte ich auch bei diesem Buch erwartet. Ich habe mich wirklich gefreut, euch diesen eher unbekannten Titel vorstellen zu können. Dann habe ich bei der Lektüre etwas völlig anderes gefunden.
Das Buch mit dem nicht ganz so schmissigen Titel “Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf. Wenn das Gehirn verrückt spielt: 30 seltene und ungewöhnliche psychische Syndrome” von Monika Niehaus dreht sich tatsächlich um psychische Krankheiten und z.T. Behinderungen und nicht um allgemeine Phänomene unseres komplexesten Organs.
Entsprechend zwiegespalten bin ich nun nach der Lektüre des Buches. Die 30 Kapitel sind klar strukturiert und lassen sich gut nebenbei, chronologisch oder in beliebiger Reihenfolge, lesen. Jedes Syndrom wird mit zwei bis vier entsprechenden Beispielfällen vorgestellt, in seinem Auftreten und seinen Hintergründen kurz erklärt und zum Schluss mit Referenzen aus Literatur und Film garniert. Manchmal endet das Kapitel mit einem Rezept zu einem gleichnamigen Cocktail.
Küchentischpsychologie
Also Küchentisch- und Partywissen aus der Psychologie. Geeignet für Smalltalk und “ich hab gehört”-Anekdoten. Grundsätzlich nichts verwerfliches, würde nicht das ein oder andere Kapitel doch sehr reißerisch und voyeuristisch wirken. Vor allem Behinderungen wie das Williams-Syndrom empfinde ich zur lockeren Unterhaltung nicht geeignet.
Besonders sauer aufgestoßen ist mir aber das von der Autorin mit “Brain-Fag-Syndrom” (von fatigue) überschriebene Kapitel. Einem Syndrom, so die Autorin, das ausschließlich Menschen aus dem afrikanischen Kontinent betrifft und sich durch akute Überforderung/Taubheit des Gehirns auszeichnet. Die Erklärung dazu klingt ziemlich eurozentrisch und rassistisch (die Menschen in Afrika wären von dem Bildungsniveau der englischen Kolonialisten überfordert gewesen und zeigten entsprechende Symptome). Zu diesem Syndrom konnte ich bei meiner kurzen Onlinerecherche leider sehr wenig finden. Die wenigen Inhalte, die diesen kulturellen Bezug bestätigen, scheint die Autorin als Quelle herangezogen zu haben. Das “Brain-Fog-Syndrom” (von fog, also Nebel) hingegen ist mit ähnlicher Symptomatik ausführlich online zu finden und betrifft laut verschiedener Quellen alle Menschen.
Kultur und Psychologie
Da immer wieder betont wird, dass die Zeit, Gesellschaft und Kultur einen großen Einfluss darauf hat, was als “psychisch krank” gilt, hätte ich mir gewünscht dass solche ggf. zweideutigen verständlichen Syndrome ausführlicher erklärt oder ausgespart würden. Gerade da die Autorin sich in späteren Kapiteln z.T. deutlich gegen Rassismus ausspricht, hätte es in ihrem Interesse sein müssen, das Kapitel zum “Brain-Fag-Syndrom” korrekt darzustellen. So klingt der Abschluss des Kapitels eher patzig. Heutzutage, so die Autorin, würden auch Psychologen in Afrika bei den Betroffenen eher „normale“ Diagnosen (Depression, Stress- oder Angstzustände etc.) stellen. Aber nur weil eine Diagnose verschwände, würde nicht das Syndrom verschwinden. Schwierig.
Wirklich interessant
Sehr interessant und unterhaltsam waren hingegen die Kapitel zum Brain-Explosion-Syondrom (einem akustischen Phänomen, das viele Menschen beim Einschlafen und Ausschlafen erleben) und Synästhesie. Beides Phänomene, bei deren Erklärung die allgemeine Verarbeitung des Gehirns im Zentrum stand. Diese Kapitel bestechen dadurch, dass ich beim Lesen direkte Bezüge zum eigenen Erleben ziehen konnte und wirklich Lust bekommen habe etwas darüber zu lernen, wie mein Gehirn arbeitet.
Solche Informationen sind eher geeignet, um mit unnützem Wissen auf der nächsten Dinnerparty zu glänzen ohne Menschen mit Krankheiten herabzusetzen.
Für ein Sachbuch hätte man außerdem noch einmal die Zuschreibung “Männer/Frauen” überdenken sollen. Manche Syndrome werden auf dem X- oder Y-Chromosom vererbt, das darf auch gern so gesagt werden. In meinen Augen ist die Formulierung „betrifft ausschließlich Männer/Frauen“ unnötig ausschließend.
Insgesamt bin ich also doch ziemlich ernüchtert von diesem Titel, kann man lesen, muss man aber definitiv nicht. Eine tolle Idee, die aber mit einer allgemeinen, wissenschaftlichen Ausrichtung statt Voyeurismus viel mehr Spaß gemacht hätte.
“Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf. Wenn das Gehirn verrückt spielt: 30 seltene und ungewöhnliche psychische Syndrome” von Monika Niehaus, erschienen im Hirzel Verlag, 254 Seiten
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