Die Tücke steckt im Detail


Seit ich blogge weiß ich zu schätzen, welche wichtige Rolle das Lektorat bei der Entstehung eines Buches spielt. Ich bin mittlerweile sogar mit Lektorinnen befreundet (ja, mein liebes 12-jähriges-Ich, das ist wirklich so cool wie es klingt!) und höre immer wieder gespannt zu, wenn sie von ihrer Arbeit berichten.

Manchmal gehen wohl auch im Lektorat Kleinigkeiten schief…

Die Hauptfigur des Romans, Frank Petersen, wird als engagierter und knallharter Strafrichter porträtiert. Wie zeigt man das am Besten? Natürlich indem man die Figur in guter alter “Show, don’t tell”-Manier (okay “tell” gibt’s trotzdem jede Menge) einen Berg von Akten durcharbeiten lässt. Um genau zu sein 5.000 Blatt. Ja, wirklich, so genau ist der Autor an dieser Stelle.

Diese 5.000 Blatt sind in 11 Aktenordnern und zwei Handakten abgeheftet, alles zusammen wird in einem Umzugskarton verstaut. Diese unnötigen und irgendwie unrunden Informationen haben mich wirklich zum Lachen gebracht.

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Ich mein, hat das mal jemand ausprobiert? Ich habe schnell recherchiert, wieviel Blatt Papier in einen dicken bzw. schmalen Aktenordner passen. Versetzt gestapelt und geschoben. Egal wie man es macht, das wird zumindest eng. Und diese völlig willkürlichen Informationen sind halt auch völlig überflüssig. Mein Kopfkino kam knirschend zum stehen.

Es gibt noch ein paar weniger offensichtliche Stellen. Mit Bildern, die an Wänden sinnierend betrachtet werden, obwohl doch einige Seiten zuvor eben jene Wände gerade gestrichen werden.

Also ich kann zusammenfassen, dass ich doch unfreiwillig ein bisschen Schmunzeln musste in diesem Buch.

… aber egal, kommen wir zum Kern der Sache!

Was neben diesen ungewollt lustigen Fakten nicht untergehen darf, ist das Potenzial des Buches! Der Autor möchte die Fälle Marianne Bachmeier und Amadeu Antonio Kiowa literarisch aufarbeiten. Da hat er sich viel vorgenommen, das hat mich zunächst absolut begeistert.

Nun nach der Lektüre muss ich zusammenfassen: da wurde zu viel verschenkt, so ganz ist ihm das für meinen Geschmack nicht gelungen.

Worum geht’s?

Im Roman verfolgen wir den eben erwähnten Strafrichter Frank Petersen dabei, wie er mit dem bewegendsten Fall seiner Karriere hadert. Damals verhandelte er den Mord an einem jungen Mann. Kurz vor dem Urteilsspruch erschießt die Mutter des Jungen den Täter. Sie ergibt sich daraufhin widerstandslos und lässt sich verhaften.

Nun hat diese Frau ihre Haftstrafe abgesessen und Petersen möchte sie endlich nach dem Warum der Tat befragen. In zwei Zeitebenen nähern wir uns also diesem Geschehen.

In der Gegenwart packt Petersen Aktenordner in Kisten, versucht seine Einschätzung zu diesem Fall zu durchdenken und auch mit der Täterin ins Gespräch zu kommen. Die Vergangenheit enthüllt die Vorgeschichte der Tat.

Diese Vorgeschichte ist es, die dann wiederum einen Fall Amadeu Antonio Kiowa ins Spiel bringt. Beide Fälle bieten sowohl juristisch als auch im Hinblick auf gesellschaftliche Fragen unglaublich viel Futter.

Marianne Bachmeier und der Mordbegriff

Ich hatte mir von einem Juristen noch ein bisschen mehr zum Thema Schuld und Moral in diesem Fall gewünscht. Denn nicht weniger als das Wesen des Mordbegriffs sehen Expert*innen im Fall Marianne Bachmeier in Frage gestellt. Ich bin juristisch natürlich eher unbedarft (bis auf die Pflichtvorlesungen im Studium, die aber weit weg vom Strafrecht waren) aber dieser spannende Aspekt bleibt im Roman völlig außen vor.

Wusstest du, dass die Mordmerkmale, wie sie seit 1941 gelten, von den Nazis formuliert wurden? Sie folgen dem Gedanken, dass der Mord einer irgendwie “schädlichen” Eigenschaft des Mörders entspringt. Daher geht es nicht um die Tat an sich, sondern darum in welcher Eigenschaft der Täter sie begeht.

“Dahinter steht die Überzeugung, dass die Tat lediglich Symptom des Wesens eines Mörders sei, der als vorgeprägter Tätertyp analog etwa zum „Gewohnheitsverbrecher“ oder „Volksschädling“ geboren werde.” (Quelle Zeit.de)

Bis zu dieser Umformulierung wurde schlicht eine “Tötung mit Überlegung” als Mord eingestuft. Das Mordmerkmal der “Heimtücke” jedoch führt dazu, dass schwache Menschen (zum Beispiel Frauen), die eher nicht in einem Akt aktiver Gewalt sondern etwa mit Gift morden “benachteiligt” werden. Das unbestimmte Merkmal “sonstiger niederer Beweggründe” wiederum lässt Richter*innen außerdem den Spielraum Fälle als Mord zu deuten (bzw. eben nicht) wenn ihre Moral ihnen das vorgibt.

Zu kurz gekommen

Das Für und Wider dieser Gesetzgebung sowie die Verbindung mit moralischen Aspekten hätte mich bezogen auf den konkreten Fall sehr interessiert. Denn Marianne Bachmeier war eine Mutter, die zur Rache für ihre getötete Tochter deren Mörder in den Rücken schießt. Ist das Mord? Oder Totschlag? Wie kann sie bei einem Schuss in den Rücken nicht “heimtückisch” gehandelt haben? Es wurden schließlich allerlei juristische Verrenkungen betrieben, um das im späteren Verfahren umzudeuten.

Dieser Fall hätte also noch unheimlich viel mehr spanndendes Potential geboten. Noch dazu, weil der Autor als Jurist vermutlich tief im Thema steckt. Leider wurde das Potenzial nicht ausgeschöpft. Es wurde verschenkt weil der Autor zu viel gewollt hat.

Statt sich dem Fall Marianne Bachmeier literarisch tief zu nähern, hat er ihn mit einem weiteren bedeutenden Fall der Deutschen Geschichte vermengt. Der Fall Amadeu Antonio Kiowa sollte Vorbild für eine weitere Facette des Romans werden.

Ja, natürlich sind beide Fälle spannend und fesselnd, doch irgendwie wird das Buch dem nicht gerecht.

Amadeu Antonio Kiowa und Rechte Gewalt

Wohl um die Figur der Täterin noch nachvollziehbar, noch menschlicher zu machen, hat der Autor sie im Buch mit einer Adaption des Falles Amadeu Antonio verbunden. Ich möchte nicht spoilern wie sie da mit dieser rechten Gewalt in Kontakt kommt, aber für mich war es zu viel.

Ich kann nicht einschätzen wie Betroffene das einschätzen, aber eine Weiße Frau indirekt zum Opfer rassistischer Gewalt zu machen, fühlte sich für mich ein wenig unangenehm an. Ob es da ein Sensitivity Reading gab, kann ich allerdings nicht sagen.

Der Fall Amadeu Antonio Kiowa ist wegen seiner Brutalität und seines furchtbaren Hasses so erschütternd. Am Abend des 24. November 1990 taten sich etwa 50 Neonazis zusammen und griffen Amadeu Antonio sowie zwei weitere Männer aus Mosambik an. Die Männer wurden zusammengeschlagen, Amadeu Antonio erlitt schwere Kopfverletzungen. Später verstarb er auf Grund seiner Verletzungen.

Auch in diesem Fall wurde es später juristisch durchaus spannend. Weil bei der Tat nicht nachgewiesen werden konnte, wer tatsächlich die tödlichen Schläge beziehungsweise Tritte ausgeführt hatte, wurden die Täter lediglich wegen “Körperverletzung mit Todesfolge” bestraft. Eine Tat, die moralisch klar ein Mord ist, wurde daher wesentlich geringer bestraft. Auch dieser Aspekt fehlt im Roman leider.

Fazit

Der Roman behandelt Fälle, die sich diametral entgegenstehen und doch beide Betrachtungen über den Mordbegriff anstellen. Wie schon erwähnt, hätte diese juristische Facette für mich deutlich stärker ausgeprägt sein dürfen.

Ein gut konzipiertes Buch, bei dem der Autor zu viel erreichen wollte und für meinen Geschmack in der Umsetzung nicht konsequent genug vorgegangen ist. Weil es sich leider auch nur mittelmäßig liest und mit den erwähnten Schwächen im Lektorat nicht völlig überzeugen kann, keine echte Leseempfehlung.

 

“Die Wahrheit der Dinge” von Markus Thiele, erschienen im Benevento Verlag, 240 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

1 comment

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  1. 1
    Mikka

    Hallo,

    wir müssen wohl irgendwie verwandt sein. Bei solchen Details wie den 5.000 Blättern und den Aktenordnern greife ich auch direkt zum Taschenrechner, rechne mir aus, wie viele Blätter ein Aktenordner dann fassen müsste und überlege, ob das überhaupt möglich ist…

    Schade, dass das Buch den Fällen anscheinend nicht gerecht wird! Eigentlich bieten sie sehr viel Potential für spannende Fragen der Ethik und der Rechtsprechung.

    LG,
    Mikka

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