Rezension: Amnestie von Aravind Adiga


Stell dir vor du lebst als Teil einer verfolgten Minderheit in einem armen Land. Du träumst von einem besseren, sichereren Leben. Das kannst du aber nur in einem anderen, reicheren Land finden. Du hast die Möglichkeit dich in einem Boot auf eine gefährliche Reise übers Meer zu begeben und Asyl zu beantragen. Traust du dich das? Vielleicht hast du auch die Möglichkeit deine letzten Ersparnisse zusammenzukratzen und auf einem sicheren Weg in das Land deiner Träume einzureisen. Dann aber glauben dir die Behörden dort nicht mehr, dass du verfolgt wirst. Der Status als Flüchtling wird dir verwehrt.

Weil Heimkehren keine Option ist, bleibst du als “Illegale*r” im Land. Arbeitest hart (natürlich ohne Vertrag, Krankenversicherung oder sonstige Absicherung) und meidest sonst jeden Kontakt mit offiziellen Stellen. Doch eines Tages wirst du Zeuge eines Verbrechens, du beobachtest einen Mord. Was tust du? Würdest du die Polizei bei der Aufklärung des Verbrechens unterstützen, wird auch unwillkürlich dein Status zur Sprache kommen, hast du ja weder Adresse noch Arbeit. Die Abschiebung ist dir sicher. Meldest du deine Beobachtungen nicht, wird der Täter ungestraft davonkommen.

Danny (eigentlich Dhananjaya Rajaratnam und ursprünglich aus Sri Lanka) ist genau in dieser Situation. Er schlägt sich als illegaler Einwanderer in Sydney durch. “Wohnt” im Lager eines Supermarkts, räumt dort tage- und nächtelang Regale ein (deswegen auch mein Beitragsfoto im Supermarkt), hat etliche Putzjobs und versucht sich vorbildlich zu integrieren.

“Eines wusste Danny: Wenn ich den Hütern dieses Gesetzes erzähle, was ich über [den Täter] weiß, erzähle ich ihnen auch, was ich über mich selbst weiß.”

Die moralische Frage, die den Kern dieses Buches bildet, hat mich wirklich beschäftigt. Wie leicht ist es aus dem warmen Sessel heraus zu bestimmen, was “das Richtige” in Dannys Situation wäre. Doch weder kann er den Mord ignorieren und von sich fern halten (unter anderem weil er das Opfer kannte und mochte) noch kann er seine persönliche Situation ausblenden und heldenhaft zur Tat schreiten. Wie kann ich sagen, wie meine Entscheidung aussehen würde? Fällt Moral oder der Wunsch nach eigener Sicherheit schwerer ins Gewicht?

“Das Richtige zu tun, war, wie das Licht auszuschalten.”

Diese Zwickmühle und die widerstreitenden Kräfte in Danny hat der Autor toll zur Geltung gebracht. Denn die Geschichte wird aus Dannys Perspektive erzählt, inklusive all der inneren Kämpfe, dem Hadern und immer wieder kleinen Abschweifungen. Manchmal ist es fast anstrengend das für und wider zu verfolgen, wie Danny ewig wälzt was wohl in welcher Version der Geschichte passieren wird. Was passiert, wenn er diese oder jene Entscheidung trifft. Aber genau das ist es ja, was da seine Welt erschüttert, glaubhaft und direkt.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Integration des Geflüchteten in eine neue Kultur. Danny versucht sich bis zur Selbstaufgabe in die australische Lebensweise einzufügen. Dazu gehört es auch, dass er ganz genau analysiert, was wohl diese Kultur überhaupt ist.

“Sie war schließlich eine große Kaffeeliebhaberin. Drei fünfzig die Tasse, und sie trank drei Tassen am Tag. (Australier warfen mit Geld nur so um sich!)”

Viele Aspekte der australischen Lebensweise scheinen für Danny aber auch nach Monaten in Sydney kaum nachvollziehbar. Welche Verschwendung Australier leben und mit welcher Abgebrühtheit, welchem Selbstbewusstsein sie sich durchs Leben bewegen lässt ihn immer wieder staunen.
Ich mochte diese Perspektive. Direkt beteiligt und durch seinen Status doch etwas distanziert ist unser Protagonist die perfekte Figur um das Lebensgefühl eines Landes einzufangen, aber auch seine Probleme direkt zu entlarven. Das Buch spielt natürlich in Sydney, aber diesen Perspektivwechsel können wir auch für unser eigenes Land annehmen. Wie unsichtbar und respektlos einerseits Menschen behandelt werden, die wir auf Grund ihres Aussehens als “Ausländer*innen” einordnen und wie es andererseits gleichzeitig “willkommene Ausländer*innen” gibt, denen wir dann doch mit Respekt begegnen, ist beschämend.

“Der Bus fuhr durch das Herz von Sydney, passierte Kantinen, in denen Ostasiaten Weiße mit Junkfood versorgten, und Boutiquen, in denen Weiße Ostasiaten mit Luxuswaren versorgten.”

Insgesamt hat mich dieses Buch beeindruckt. Es bietet Stoff zum Nachdenken und Mitleiden, wird aber mit einem angenehmen Augenzwinkern erzählt. Meine liebste Stelle ist die, in der Danny bei einem Putzjob eine Huntsman-Spinne beseitigen möchte und dafür zunächst eine Freundin anruft, um nach Rat zu fragen. Nachdem er halbwegs sicher ist, dass diese Spinne ihn nicht töten wird, entfernt er sie, während er die Melodie von „Mission Impossible“ summt.
Dieser Moment zeigt was für eine akribische, liebenswerte und einfach lustige Figur uns durch diese spannende Geschichte führt. Und mit jeder Seite habe ich mehr gehofft, dass Danny eine gute Lösung für sein Dilemma finden wird.

“In Australien kann alles passieren, weil die Welt hier auf dem Kopf steht.”

„Amnestie“ von Aravind Adiga, übersetzt von Ulrike Wasel und klaus Timmermann, erschienen bei C.H. Beck, 286 Seiten

2 Comments

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  1. 1
    Konstanze

    Spontan hätte mich das Buch überhaupt nicht angesprochen, nach deiner Rezension kommt es auf die Bibliotheksmerkliste (mal schauen, wie viele Monate es noch dauert, bis man wieder problemlos in unserem Stadtteil Bücher ausleihen kann).

    • 2
      Alexandra

      Oh das freut mich! Das Buch ist wirklich besonders und ist in diesem Herbst ein bisschen untergegangen. Ich bin gespannt ob du es magst! :)

      Viele liebe Grüße,
      Alexandra

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