Literarische Reise durch den Common Ground #2: “Emet” von Ivana Šojat


Dieser Beitrag ist in Kooperation mit Common Ground und TRADUKI entstanden und enthält Werbung (Verlinkungen und Nennung des Projekts).

Die Leipziger Buchmesse rückt langsam näher und das habe ich zum Anlass genommen meine literarische Reise durch Südosteuropa endlich fortzusetzen. Mein heutiges Reiseziel war schon lang (viel zu lang) geplant, aber es ist gar nicht so einfach “Emet” von Ivana Šojat gerecht zu werden.
Allein, das Buch hat mich sehr beschäftigt und ich habe lang überlegt, wie ich all meine Gedanken am Besten in Worte fassen soll.

Auf einer Onlinelesung habe ich Ivana Šojat dann persönlich sprechen gehört und gedacht, dass das der Weg sein muss. Wir haben Kontakt aufgenommen und Sie hat mir meine Fragen beantwortet. Ich bin froh, dass sie die Geduld hatte, mir (und euch!) ihr Buch näherzubringen.

Mein Interview mit Ivana hat ein paar sprachliche Umwege genommen und ihre Antworten wurden schließlich von mir aus dem Englischen übersetzt. Alles was hier vielleicht komisch oder holprig klingt, ist also meine Schuld.

Interview mit Ivana Šojat

Hallo Ivana! Vielen Dank, dass ich dir ein paar Fragen stellen darf. Damit meine Leser ein bisschen mehr über dich erfahren, wäre es schön, wenn du dich kurz vorstellen könntest.

Sehr gern! Schnell ein paar Fakten über mich: ich wurde 1971 in Osijek in Kroatien geboren.
Bis jetzt habe ich sechs Romane, fünf Anthologien mit Kurzgeschichten, fünf Lyrikbände und einen Essayband veröffentlicht. Für mein Buch „Emet“ habe ich alle großen Literaturpreise bekommen.
Ich arbeite für das Nationaltheater in Osijek als Editorin von Theaterpublikationen.
Ich habe drei Kinder und zwei Hunde.

Das ist wirklich eine beeindruckende Bibliografie! Wie bist du zur Literatur gekommen? Welche Themen beschäftigen, faszinieren dich besonders?

Ich bin umgeben von Büchern aufgewachsen, meine ganze Familie liebte Bücher und das Lesen schon immer. Meine Großmutter war Professorin für Geschichte und Latein. Dank ihr habe ich mich dann ebenfalls in die Geschichte verliebt.
Geschichte ist jetzt auch das Hauptmotiv meines Schreibens, aber Psychologie und Familienbeziehungen interessieren mich ebenso. Ich habe gelernt, dass eine Mutter die zentrale Rolle in der emotionalen Entwicklung der Psyche eines Kindes spielt. Niemand kann Kinder so sehr zerstören wie eine Mutter, das beschäftigt mich. Mich fasziniert außerdem das Böse, die Art wie es in der menschlichen Gesellschaft funktioniert und wie es die Geschichte formt.

„Emet“ ist eine Kurzgeschichtensammlung, beziehungsweise eine Novelle und dazu passende Kurzgeschichten. In allen haben die Themen Tod, aber auch Familie ein besonderes Gewicht. Die titelgebende Geschichte “Emet” handelt von Lucia, welche allein in dem Haus ihrer Familie lebt. Nachdem zuerst ihr Großvater, dann ihre Großmutter und schlussendlich die Eltern verstarben, bleibt nur sie zurück. Ist Lucia allein oder gar einsam?

Lucia ist eine Gefangene des Hauses der Familie. Sie schafft nicht es zu verlassen wegen all der Geheimnisse, über die niemand je mit ihr sprach. „Emet“ (was „die Wahrheit“ bedeutet) erzählt die Geschichte von Familien, die versuchen sich selbst mit Lügen zu schützen. Ein völlig falscher Ansatz: weil Lügen eine Art böser Geist sind, der uns von unserem Leben trennt. Aber Menschen schämen sich für ihre Fehler oder für einen Suizid in ihrer Familie und wollen sich hinter Lügen verbergen.

Lucia ist völlig allein. Sie ist getrennt vom Rest der Welt, besser gesagt sie hat sich vom Rest der Welt entfernt. Aber das ermöglicht es ihr mit den Geistern ihrer Familienmitglieder zu kommunizieren. Dadurch entdeckt sie ihre wahre Identität und Wahrheit.

Im Roman verschwimmen die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten immer wieder. Warum hast du diese Darstellung gewählt?

Ich glaube, nein ich bin überzeugt, dass wir mit all denen, die uns nahe standen in der ein oder anderen Weise verbunden bleiben.
Auf eine Art machten sie unsere Welt aus, setzten das Fundament unseres Lebens. Einige von ihnen haben uns zerstört, andere machten uns stärker. Es ist unmöglich sich völlig von ihnen zu lösen. Das Leben und der Tod stehen zu dicht beieinander. Das wollte ich zeigen.

Warum wird innerhalb der Familie nicht offen gesprochen? Warum kommt immer erst nach dem Tod einer Person ihre Wahrheit ans Licht?

Die älteren Generationen in Koration waren sehr konservativ. Das heißt es gab jede Menge Tabus, eine Menge Themen über die niemals gesprochen wurde. Zum Beispiel käme es nie in Frage über Kindesmissbrauch zu sprechen, über Suizid, über psychische Zusammenbrüche und Krankheiten. Manchmal reichte es nicht einmal, das jemand starb. Einige Dinge wurden auch dann nicht ausgesprochen. Man könnt sagen, sie waren auch dann zu unangenehm um daran zu rühren.

In der Psychologie gibt es die Theorie, dass selbst die unausgesprochenen Trauma, die unausgesprochenen Geheimnisse der Familie von den nachfolgenden Generationen erspürt werden. Dass sie Ängste, Enttäuschungen und ja sogar Phobien erben. Und leider gibt es keine Familie ohne „Leichen im Keller“. Das ist einfach ein interessantes Thema für mich, mein liebstes!

Es scheint, als könne Lucia die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Warum ist die Protagonistin Lucia auf der Suche nach der Wahrheit?

Es gibt kein Leben, also kein wirkliches Leben, ohne die Wahrheit. Ein Leben mit Teilen der Wahrheit ist eine Illusion. Das Leben ist als ob man ein Haus auf Sand oder Kies baut: du verschiebst ein Steinchen und alles bricht zusammen.

Lucia ist sich dessen bewusst. Trotzdem sucht sie die Wahrheit. Aber, eigentlich sind die Menschen, die die Wahrheit wirklich wissen wollen, selten. Weil die Wahrheit schmerzhaft ist.
Auf nationalem Level ist das noch offensichtlicher. Um die Geschichte zu verschönern werden Mythen geschaffen. Nichts anderes als pompöse Lügen.

Die Engel, die Lucia malt, geben dem Buch etwas Spirituelles, sie wirken aber gleichzeitig ganz sachlich. Wie wichtig ist dir Spiritualität?

Spiritualität ist mir sehr wichtig. Und ich glaube auch Spiritualität spielt eine sehr wichtige Rolle im Leben eines jeden Menschen. Selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Ich meine hier nicht die Kirche, sondern die Sehnsucht danach mehr zu sein als Fleisch das stirbt und verschwindet.
Es geht mehr um eine Verbindung zur Natur, deren immanente „Anwesenheit“ wir üblicherweise „Engel“ nennen. Wir sehnen uns nach Schutz und Erklärungen, nach etwas, das uns im Leben beruhigt und sicher durch seine Stürme bringt.

Direkt auf “Emet” folgt eine Geschichte mit dem Titel “Kaffeesatz”. Sie wirkt wie eine Spiegelung von „Emet“. Die Familien ähneln sich, ihre Entwicklung ist ebenso tragisch, ebenso gewalttätig und doch eine eigene Tragödie. Wie hängen die Geschichten für dich zusammen?

Diese beiden Geschichten sind tatsächlich sehr ähnlich. “Emet” präsentiert das Thema nur in einer spirituelleren Art. Ich kann sogar sagen in seiner Art ist es eine Horrorgeschichte. Sehr makaber. Die andere ist bodenständiger, eine Geschichte die wir leider in Zeitungen regelmäßig lesen können. Es ist eine dreckigere, menschliche Version des selben Themas.

Zum Abschluss noch eine letzte Frage zu dir als Autorin. Lucia arbeitet im Roman in völliger Isolation. Wie ist eigentlich deine Umgebung beim Schreiben?

Ich habe drei Kinder, also Stille und Isolation sind keine Optionen für mich. Ich hatte sie nie. Vielmehr musste ich mich an permanentes Geschrei und Tumulte gewöhnen. Deshalb kann ich überall arbeiten und schreiben, in jeder Lebenslage. Das ist für mich ein Segen, immerhin bedeutet das: nichts kann mich aufhalten! :)

Zweite Station “Emet” von Ivana Šojat

Ich habe eine ganze Weile gesucht, bis das perfekte Reiseziel für den zweiten Stopp in Südosteuropa feststand. Es sollte ein Buch sein, das die Facetten südosteuropäischer Literatur spannend zeigt, gut zu meinen Leser*innen (und vor allem mir) passt und bewegt.

“Emet” schafft genau das! Wo “Die Nacht als ich sie sah” sehr historisch, politisch und in seinem Aufbau eher dramatisch ist, schlägt “Emet” ganz leise, private Töne an. Und bleibt dennoch mit seinen düsteren atmosphärischen Bildern im Gedächtnis hängen. In meinen Augen eine perfekte Ergänzung.

Anhand des Interviews habt ihr schon erfahren worum es geht: die Protagonistin Lucia lebt verlassen im Haus ihrer Familie. Nachdem nach und nach ihre Großeltern und später auch ihre Eltern verstarben, bleibt sie einsam zurück. Während um sie herum das Haus verfällt, versucht sie ihrer Wahrheit (und der Wahrheit ihrer Familie) näher zu kommen.

“Emet” ist dabei eine Mischung aus Gruselroman und Familienroman mit psychologisch interessantem Arrangement. Besonders beeindruckt haben mich seine starken Bilder und Metaphern. Die Zimmer, die Lucia nicht mehr betritt, zeigen zum Beispiel die Teile ihrer Vergangenheit, die sie meidet. Die Wahrheit liegt oft im wahrsten Sinne des Wortes begraben: unter dem Boden, in einem Brunnen oder unter den Farbschichten von Lucias Bildern.

“Manchmal vermische ich Dinge, die zeitlich getrennt waren, zu meiner eigenen Verwirrung.”

Lucia ist nicht im engeren Sinne eine unzuverlässige Erzählerin, aber ihre Perspektive ist durchaus fordernd und führt uns zum Teil in traumartigen Sequenzen durch die Geschichte. Die Übergänge zwischen Wahrheit und Vorstellung sind dabei oft nicht ganz klar. Eine super spannende Form.

“Manchmal versuchen wir, uns in Dinge zu pressen, über die wir längst hinausgewachsen sind.”

Es geht um Wahrheiten, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden, die aber an uns nagen und beißen, bis wir sie nicht länger ignorieren können. Weil eben diese Wahrheiten es sind, ohne die wir haltlos durchs Leben trudeln. Und es geht um Liebe und Angst innerhalb von Familien. Manche Sequenzen sind dabei wirklich nur hart zu ertragen. Sie finden sich zum Teil auch in den anderen Kurzgeschichten gespiegelt und zeigen die emotionalen Extreme innerhalb von Familien.

In der Lesung erzählte Ivana, dass sie “Emet” zunächst als Roman konzipiert hat, dann aber Angst hatte, dieser würde zu deprimierend und düster werden. Deshalb hat sie Emet als Novelle arrangiert und mit weiteren begleitenden Geschichten das Thema ergänzend aufgegriffen.
Das ist ihr für meinen Geschmack super gelungen. Ein spannendes Buch, das mir die südosteuropäische Literatur von ihrer ganz ruhigen, persönlichen Seite näher gebracht hat.

Abschließend noch kurz ein Satz zum Verlag: bei meiner Suche nach Literatur aus Südosteuropa bin ich über den Eta Verlag gestolpert und habe mich verliebt. Das klare, schicke Design der Bücher und die modernen Texte, die da verlegt werden, haben mich total umgehauen. Im Verlag werden ausschließlich Texte von Autor*innen aus Südosteuropa veröffentlicht, alle zeichnen sich durch ihre moderne und spannende Thematik und Tonalität aus. Zum Verlag erzähle ich euch später gern noch mehr, denn es wartet bereits ein weiteres Buch aus diesem tollen Verlag auf mich.

 

„Emet und andere Geschichten“ von Ivana Šojat , übersetzt von Elvira Veselinović, erschienen im eta Verlag, 207 Seiten. Hier gibts eine Leseprobe!

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