Der Tod des Vivek Oji


Vivek Ojis Leben wird von den Tränen seiner Mutter eingerahmt. Am Tag seiner Geburt stirbt seine Großmutter und er kommt in der größten Trauer auf die Welt, am Tag seines Todes weint die Mutter schließlich nur um ihn. Und auch mir hat “Der Tod des Vivek Oji” von Akwaeke Emezi das Herz gebrochen.

Schon der Einstieg in die Geschichte ist ein Schlag in die Magengrube. Vivek Ojis Mutter wird die Leiche ihres jugendlichen Sohnes vor die Haustür gelegt. Mit eingeschlagenem Schädel, vollständig entkleidet und nur gewickelt in eine blutige Bahn bunten Stoff.

Sie ahnt, dass sie ihren Sohn nie ganz gekannt hat und beginnt Fragen zu stellen. Zuerst sich selbst. Warum war Vivek so verschlossen in seinen letzten Monaten? Wieso konnte sich ihr Kind ihr nie öffnen? War er überhaupt glücklich?
Sie beginnt aber auch mit seinen Freundinnen und Freunden zu sprechen, um Vivek nun doch noch kennenzulernen.

Zu Lebzeiten galt Vivek als schwierig und störrisch. Ließ sich die Haare nicht kurz schneiden, wie die anderen Jungen, oder weigerte sich in seinem Zimmer zu schlafen, weil er die Sterne sehen wollte. Doch er war auch humorvoll und sensibel. All diese Facetten, sowohl aus der Perspektive der Mutter als auch seines Cousins und der Freund*innen, bringt der Roman nach und nach ans Licht. Und auch Vivek kommt zu Wort, in einigen Kapiteln spricht er quasi “aus dem Jenseits”, dann ist er wieder lebendig. Das klingt alles furchtbar anstrengend, es fügt sich aber wunderschön zusammen.

Und irgendwie kann man nicht umhin Vivek und die anderen Figuren zu lieben. Akwaeke Emezi schafft Protagonist*innen mit viel jugendlicher Leichtigkeit und Wärme. Dazu gehören auch queere Liebesbeziehungen, die mit großer Normalität und feiner Sinnlichkeit beschrieben sind. Ich hab’s geliebt!

Die Erwachsenenfiguren scheinen übrigens im Kontrast dazu in düsteren Farben gezeichnet. Gefangen in lieblosen Beziehungen und gesellschaftlichen Erwartungen gebeugt. Sie stellen die rückwärtsgewandten Kräfte der Gesellschaft dar.

Das ist besonders spannend vor dem Setting der Geschichte. “Der Tod des Vivek Oji” spielt im Süden Nigerias. In dem westafrikanischen Land leben über 250 Ethnien, sie unterscheiden sich kulturell aber auch in ihrer religiösen Ausrichtung. Immer wieder gibt es Spannungen und Unruhen, die auch im Roman kurz angerissen werden. So platziert Akwaeke Emezi den Roman eindeutig in dieser Umgebung, ohne dass er seine Allgemeingültigkeit verliert.

Denn eigentlich geht es um Jugendliche, die sich selbst erfahren möchten. Die ihre Identität und Sexualität eben erst entdecken. Also obwohl “Der Tod des Vivek Oji” tief verwurzelt in Nigeria ist, könnte die Geschichte gleichzeitig überall spielen. Vivek nimmt dabei lediglich eine besondere Rolle ein, weil er diese Themen in die Sichtbarkeit bringt.
Irgendwie brachte mich die Lektüre damit in einen emotionalen Sturm. Ich leidete und freute mich mit Vivek. Fragte mich zunächst “was mit ihm nicht stimmt”, bis mir bewusst wurde, dass mit Vivek alles genau richtig ist. Und gerade dann trafen mich die Entwicklungen der Geschichte besonders hart.

Natürlich war das angekündigt. Der erste Satz des Romans lautet ja bereits:

“Am Tag vor Vivek Ojis Tod brannten sie den Markt nieder.”

Ich kann den Moment beim Lesen gar nicht beschreiben, als ich verstand, dass jetzt das Feuer auf dem Markt ausgebrochen ist. Das Vivek, den ich gerade so fest ins Herz geschlossen hatte, nun der Dämmerung entgegen gehen würde. Ich musste die Lektüre tatsächlich eine ganze Weile pausieren, weil mich das so mitgenommen hat. Wirklich großartig gemacht.

Das klappt vor allem wegen diesem ganz besonderen Stil. Er ist fein und ruhig, wir fühlen was Emezis Figuren fühlen, sehen was sie sehen. In diesen amtosphärisch dichten Beschreibungen bleibt der Roman aber dennoch durchgehend modern und präzise.
Die Verbindung zu Nigeria schafft Akwaeke Emezi übrigens auch sprachlich, die schnellen und lockeren Dialoge werden immer wieder um nigerianische Begriffe ergänzt. Zwar gibt es ein Glossar, aber die Übersetzung ist derart gelungen, dass der Inhalt sich zum allergrößten Teil auch im Lesefluss erschließt.

Alles in allem ein Roman, den ich von ganzem Herzen empfehlen will. “Der Tod des Vivek Oji” hat mich bedrückt, weil diverse Figuren wieder im Leid und Kampf gezeigt werden. Gleichzeitig war es aber auch ein Roman, der mich glücklich gemacht hat, weil er viele kleine und große Lichtblicke enthält.

 

Die Autor*innen Akwaeke Emezi haben übrigens eine multiple Persönlichkeit und nutzen im Englischen daher die Pronomen they/them. Ihr erster Roman “Süßwasser” erschien 2018 ebenfalls bei Eichborn. Obwohl dieser Roman im ersten Anlauf sprachlich und inhaltlich wesentlich sperriger wirkte, freue ich mich jetzt um so mehr auf die Lektüre.

 

“Der Tod des Vivek Oji” von Akwaeke Emezi, übersetzt von Anabelle Assaf, erschienen im Eichborn Verlag, 268 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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