Im Wunderland mit Claire Messud


Ich habe “Wunderland” wie im Rausch gelesen. Eigentlich wollte ich nur einen “kurzen Blick” in das Buch werfen. Aber dann wurde ich erst knapp 380 Seiten später wieder ausgespuckt. Schon bei “Das brennende Mädchen” von Claire Messud habe ich ähnliches erlebt.
Auch dieser Roman handelte von einer engen, fast abhängigen Freundschaft. Diesmal, in “Wunderland”, sind es erwachsene Frauen und keine jungen Mädchen. Der lebendige, atmosphärisch dichte Schreibstil funktioniert hier aber ebenso gut.

“Schafft Glücklichsein einfach mehr Zeit, so wie bekanntlich Traurigsein die Zeit in die Länge zieht und andickt wie Soße?”

Die Erzählung erleben wir diesmal aus der Perspektive einer durch und durch braven, hilfsbereiten, unauffälligen Frau. In deren Kopf ist es allerdings gar nicht so brav, wie es scheint.

Freundschaft an der Grenze zur Abhängigkeit

Nora Eldridge ist eine Grundschullehrerin wie im Bilderbuch: 37 Jahre alt, alleinstehend, immer fröhlich, beherrscht und bedacht. Dass sie eigentlich Künstlerin werden wollte und sich wütend nach “dem Leben” sehnt (aber eigentlich auch noch gar nicht so genau weiß, was das für sie bedeutet), ahnen die Eltern beim Elternabend ihrer dritten Klasse wohl nicht.

Dann kommt ein neues Kind in Noras Klasse. Sowohl der Junge als auch dessen Eltern üben auf sie eine unwahrscheinliche Anziehung und Faszination aus. Vor allem die Mutter des Jungen zieht Nora in ihren Bann. Sie wünscht sich fast verzweifelt bedürftig eine Freundschaft mit der engagierten Künstlerin. Und tatsächlich, die professionellen Grenzen weichen auf, Nora schleicht sich weit ins Leben der Familie.

Dass da jede Menge Konflikte und Enttäuschungen warten, ist nicht zu viel verraten. Jede der Figuren steht dabei für einen der Herzenswünsche unserer Protagonistin. Sie stellen ihre Sehnsucht nach Kunst, Mutterschaft und Sex dar. Sie alle drei insgesamt zeigen ihr das Leben, das sie gern gelebt hätte.

Beim Lesen ist es faszinierend, fast verstörend und ein wenig unangenehm, wie sich die erzählende Stimme in die Abhängigkeit zu dieser Familie begibt. Wie verzweifelt jeder Kontakt gesucht, jede Aufmerksamkeit aufgesogen wird. Dabei geht es auch um Einsamkeit und die Angst, niemandem so richtig etwas zu Bedeuten.

zu viel Kunst

Außerdem geht es um Kunst und Entfaltung. Für meinen Geschmack zu viel Kunst, beziehungsweise eine fast zur Karikatur übertriebene Darstellung der Kunst.

Die Installation, die dem Buch ihren Titel gibt, das “Wunderland” wird im Verlauf des Romans absurd ausufernd beschrieben. Da wird gebastelt und geklebt, Gebasteltes und Geklebtes wiederum fotografiert und gefilmt, es gibt natürlich auch noch Duft und Licht und… zu viel. Viel zu viel.

Irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass das wohl ist, was sich die Autorin unter extravaganter Kunst vorstellt, nichts was wirklich Bedeutung hätte. Die Konzentration auf Kunst und ihre Bedeutung hat mich dadurch nicht mehr wirklich erreicht.

und die Sache mit der Diversität

So sehr ich von der erzählerischen Kraft Claire Messuds begeistert bin, so hin und her gerissen bin ich stellenweise über den Umgang mit diskriminierten Gruppen in diesem Text.
Es ist mittlerweile bekannt, dass mir diese Themen wichtig sind. Vielleicht fallen sie mir daher auch eher auf. Aber bei “Wunderland” gab es einfach eine so große Anzahl kleinerer und größerer Punkte, dass ich kurz darüber sprechen muss.

Vorab, es wird schon deutlich, dass der Autorin Themen wie Rassismus und Diskriminierung wichtig sind.

“Wenn man Araber ist oder einen Namen aus dem Nahen Osten hat, ist es niemals etwas Persönliches, aber es ist immer da.”

Dennoch wird die Familie, die da ins Zentrum der Aufmerksamkeit unserer Protagonistin rückt, sehr exotisierend beschrieben. Natürlich zeigt das auch die Perspektive der Figur, für die diese Personen eben eine exotische Flucht aus ihrem furchtbar langweiligen Leben sind. Aber manche Beschreibungen und Vergleiche waren einfach ziemlich unpassend. Immerhin werden diese Themen zum Teil durch einen Vorfall im Roman aufgegriffen und reflektiert.

Zudem gibt es in “Wunderland” ein wunderbares lesbisches Pärchen (mit Kind!), das mich sehr mit der Geschichte versöhnt hat. Aber eben leider auch den obligatorischen schwulen besten Freund, der nur in einem oder zwei Sätzen eingeführt wird, um dann tragisch umzukommen. Bury your gays. Naja.

Eine “ironische Metapher” hat mir übrigens wirklich in dem Moment den Spaß an der Geschichte genommen. Sowas muss einfach nicht sein, den Charakter einer Figur kann man auch anders porträtieren.

“Oder ist er ein Außerirdischer? Oder Autist?”

Das sind natürlich nur ein kleine Puzzlestücke. Aber bei einem Roman, der es schafft ein Kunstwerk derart übertrieben detailreich darzustellen, hätte ich mir etwas mehr Aufmerksamkeit für die Darstellung von Menschen gewünscht.

Wut und eigene Wahrheiten

Denn es sind ja tief menschliche Themen, die “Wunderland” behandelt. Es geht darum was die Geschichten, die wir erzählen über uns sagen. Sowohl die Geschichte von einzelnen Personen als auch von Nationen. Das sind spannende Gedanken und Fragen.
Aber ehrlich gesagt möchte ich dabei keine Überlegungen anstellen, ob man erst deutsche Kunst und Kultur kennen sollten, ehe man von Hitler hört (Seite 236). Vielleicht würde das Land dann positiver wahrgenommen, aber darum geht es ja eigentlich nicht. Die Beispiele auf persönlicher Ebene funktionierten da für mich besser.

Im englischen Original ist der Titel des Romans übrigens “The Upstairs Woman” und passt für meinen Geschmack viel besser zu dieser Geschichte. Nora beschreibt sich im Roman immer wieder als die Frau von oben. Diejenige, die wir im Hausflur kurz grüßen, die für uns ein freundlicher Schatten bleibt und deren unbändige Wut wir nie wahrnehmen.

Ich bleibe bei “Wunderland” ambivalent zurück. Ein Roman, den ich erzählerisch toll finde, über den man auch wunderbar diskutieren kann, an dem ich mich aber auch gerieben habe. Zum Teil soll das natürlich so sein, in einigen Aspekten hätte ich gern darauf verzichten können.

 

“Wunderland” von Claire Messud, übersetzt von Monika Baark, erschienen bei Hoffmann & Campe Verlag, 380 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

+ There are no comments

Add yours