Kleine Freuden, große Wunder


Was haben Forschende in Biologie und Medizin mit christlichen Theolog*innen gemeinsam? Wohl zumindest die Faszination für die Parthenogenese (auch eingeschlechtliche Fortpflanzung oder Jungfrauengeburt genannt).

In Clare Chambers’ Roman “Kleine Freuden” behauptet eine junge Frau in vollster Überzeugung ihre Tochter geboren zu haben, ohne zuvor jemals Sex gehabt zu haben. Sie habe sich nie intim einem Mann genähert. Eine unbefleckte Empfängnis quasi. Ist das nun ein medizinisches beziehungsweise theologisches Wunder oder ein riesiger Betrug? Dieser Frage soll die Journalistin Jean Swinney auf den Grund gehen.

Eine Starreporterin ist sie wahrlich nicht. Jean arbeitet für eine kleine lokale Tageszeitung im London der 1950er Jahre. Sie schreibt Haushalts- und Gartentipps und beantwortet die Post der Leser*innen. Die Recherche zu dieser kuriosen Geschichte wird für sie journalistisch aber auch privat spannender, als alles was sie je zuvor erlebte.

Historische Vorlage

Der Roman basiert auf einem ganz konkreten historischen Vorbild. Emmimarie Jones behauptete im Jahr 1955 ihre Tochter sei das Ergebnis einer Empfängnis ohne biologischen Vater. Diese Behauptung sorgte für einen ziemlichen Skandal in den britischen Medien und war in einer Zeit ohne DNA-Tests schwer zu beweisen. Dieser Artikel fasst den Fall toll zusammen.
Es gab immer mal wieder Frauen, die diese Behauptung äußerten. In Emmimaries Fall wurde jede Menge Aufwand betrieben, um einen Nachweis zu bringen. Schlussendlich konnte nicht nachgewiesen werden, dass Emmimaries Tochter Monica ohne Vater entstanden ist. Die Behauptung konnte damals aber auch nicht ganz sicher widerlegt werden.

Auslöser für diese Fälle war eine Vorlesung der Biologin und Genetikerin Dr. Helen Spurway. Sie forschte in den 1950ern dazu, ob die bemerkenswerten Fortpflanzungsmöglichkeiten verschiedener Fische und Echsen auch beim Menschen vorkommen könnten. Im Tierreich ist die eingeschlechtliche Fortpflanzung nämlich gar nicht so selten. Wie die embryonale Entwicklung des Menschen genau funktioniert, war damals noch nicht vollständig geklärt.

Viele Frauen wünschten sich, dass ihnen endlich geglaubt würde und stellten sich medizinischen Untersuchungen. Die meisten Fälle disqualifizierten sich sofort. Entweder weil sie von falschen Annahmen ausgegangen waren oder weil einfache Bluttests bewiesen, dass eine zweite Person bei der Zeugung beteiligt sein musste. Die übrigen, wie Emmimarie Jones und ihre Tochter Monica, bewegten die Gesellschaft um so mehr.

Ein echt spannendes Thema also, das die Basis für diesen Roman liefert. Es geht im Roman aber gar nicht so sehr um biologische beziehungsweise medizinische Details. Vielmehr dreht sich die Geschichte um den Wunsch gesehen zu werden. Es geht um Glauben und Vertrauen in Beziehungen aber auch in die Wissenschaft. Sehr besondere Themen, die zusammen mit diesem spannenden Rätsel einen echten Sog entwickeln.

Völlig subjektiv ziemlich toll

Oft sind Figuren in Romanen zu wunderschön, zu stark und perfekt um sich ihnen wirklich verbunden zu fühlen. In diesem Roman lebt die Hauptfigur ein sehr einfaches, reglementiertes und ganz normales Leben. Sie macht sich Sorgen darüber was es zum Abendessen gibt und ob ihr ein Kleid gut genug stehen wird.

Jean ist introvertiert und hat mit knapp 40 keinen Mann, sondern kümmert sich um ihre betagte Mutter. Mit dieser lebt sie zusammen im Elternhaus. Zwischen Mutter und Tochter gibt es eine ziemliche Hassliebe. Sie scheinen in ihren alltäglichen Routinen gut miteinander klar zu kommen. Gleichzeitig gehen sie sich wirklich auf die Nerven und engen sich unfassbar ein.

Irgendwie ist ihre kleine Welt sehr nahbar. Diesmal ist mir das passiert, was das Buch völlig subjektiv zu einem besonderen Erlebnis macht: ich kenne die Hauptfigur, quasi. Also ich habe sofort verschiedene reale Menschen vor meinem inneren Auge gesehen, die dieser Charakterisierung ähneln.
Nicht unbedingt auf Grund ihrer konkreten Lebensumstände. Sondern weil ich diese behutsame, ein bisschen eingeengte aber innerlich wilde Seele so echt und authentisch empfunden habe.

Benannt ist der Roman nach den kleinen Freuden in Jeans Leben. Allein eine Zigarette rauchen während ihre nervtötende Mutter in der Badewanne ist. Einen Ausflug unternehmen oder spontan einem anderen Menschen eine kleine Freude machen. Diese lebendigen Momente machen die Geschichte für mich aus.

War das nun ein Wunder?

Ich hab diesen Roman sehr schnell verschlungen. Es ist eines dieser Bücher, die eine spannende Grundidee mit einer authentischen Atmosphäre verbinden. Beinahe biblisch auf der einen Seite (ein bisschen wie im Roman “Das Wunder” von Emma Donoghue), man möchte unbedingt erfahren wie die Geschichte um die angebliche Parthenogenese endet.

Auf der anderen Seite einfach die fesselnde Geschichte einer unwahrscheinlichen Heldin. Mit einer unwahrscheinlichen Liebesgeschichte und genau der richtigen Portion Drama (ich hab das Ende wirklich nicht kommen sehen). Genau das richtige für kommende Herbstabende.

Mein einziger Wermutstropfen? Einige Enthüllungen rund um das Jungfrauen-Rätsel sind leider echt klischeebeladen (Menschen mit geistigen Behinderungen sind nicht gruselig, wirklich nicht) und erklären einige Aspekte nur spärlich.

 

„Kleine Freuden“ von Clare Chambers, übersetzt von Karen Gerwig, erschienen im Eisele Verlag, 426 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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