Interview mit Anja Jonuleit zu ihrem Roman „Das letzte Bild“


Dieser Beitrag ist in Kooperation mit dem dtv Verlag im Rahmen der Organisation einer Leserunde zum Roman „Das letzte Bild“ entstanden. Die Teilnehmer*innen der Leserunde haben über Instagram eine Vielzahl von Fragen an Anja Jonuleit eingereicht. Wir haben diese Fragen zusammengetragen und gemeinsam mit der Autorin zu einem Interview zusammengestellt.

 

Liebe Frau Jonuleit,
vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen und unserer Leserunde ein paar Fragen zu “Das letzte Bild” beantworten!

Im Roman begegnet Eva der Isdal Frau auf dem Titel einer Zeitung. Wo beziehungsweise wie sind Sie auf diesen Fall aufmerksam geworden?

Ich steckte eigentlich mitten in einem anderen Romanprojekt, für das ich noch ein bisschen „Unterfutter“ brauchte und bin so beim Recherchieren auf den Fall der Isdal-Frau aufmerksam geworden. Ich habe dann das andere Projektbeiseitegelegt (was mir nicht oft passiert, gewöhnlich bin ich so ein Zu-Ende-Bringer) und erstmal alles gelesen, was ich über den Fall in die Finger bekommen konnte.

 

Was hat sie dann dazu bewegt ausgerechnet diesen ungelösten Kriminalfall in einem Roman zu verarbeiten?

Dieser Fall war für mich der ungewöhnlichste und rätselhafteste Kriminalfall, von dem ich je gehört hatte. Ich musste mich einfach näher damit beschäftigen. Das war ein bisschen wie ein Zwang, ich habe ständig darüber nachgedacht. Ich wollte einfach alles wissen, was über die Frau bekannt war – und damit meine ich wirklich alles.

 

Gibt es wahre Vorbilder für die Figuren des Romans? Besonders der norwegische Kommissar, der Eva begleitet, ist unseren Leser*innen als spannender Charakter aufgefallen.

Es gibt keine realen Vorbilder, aber Evas Recherche, ihr Vorgehen, ähnelt ein bisschem meinem eigenen Vorgehen in dieser Sache. Der Kommissar ist erdacht, aber natürlich gibt es da Dennis Aske, einen norwegischen Juristen, der ein fantastisches Buch über die Isdal-Frau geschrieben hat und der mir als wichtigster Informant diente.

 

Waren Sie selbst in Norwegen? Sprechen Sie selbst norwegisch? (Beziehungsweise wie haben Sie die Recherche bewerkstelltigt?)

Ich bin selbst nach Norwegen gereist (spreche allerdings kein Norwegisch, aber mit Englisch kommt man dort gut zurecht) und habe Kontakt aufgenommen zu einigen wichtigen Personen, so mit dem Sohn des Kriminalkommissars, der damals die Ermittlungen in dem Fall leitete, Tore Osland, der mich netterweise zu dem Grab führte, das ich sonst auf keinen Fall gefunden hätte.  Ich habe mit Carl Halvor Ås, dem Staatsanwalt, der als erster am Fundort der Leiche war, gesprochen und wie gesagt mit Dennis Aske, meinem wichtigsten Informanten. Ich habe so gut wie alle Städte und Stätten, an denen die Frau gesehen wurde, abgeklappert und mir auch die im Buch erwähnten Lebensbornheime angeschaut. Es war eine unglaublich bewegende Reise, auf den Spuren dieser Frau, aber auch auf den Spuren der deutschen Lebensborn-Vergangenheit.

Und haben Sie vielleicht sogar eigene Erlebnisse / Erfahrungen bei der Recherche als Vorbild für die Handlung genommen?

Da ich mich bei meinen Recherchen ziemlich reinsteigere und – wenn es irgend geht – an die Orte reise, kommt es eigentlich immer vor, dass ich reale Erlebnisse/Beobachtungen in die Story einfließen lasse. In diesem Fall war das zum Beispiel Evas erste Wohnung in Bergen (mit dem gegenüberliegenden Balkon, wo ich eines Morgens, als es noch dunkel war, jemanden stehen und rauchen sah); die ganzen Unterlagen, die Eva sichtet (viele davon habe ich selbst von Dennis Zacher Aske und Tore Osland bekommen und durchgeackert); der Gang auf den Friedhof samt Spiegelscherbe; die Fahrten über Land nach Tananger und zu den Lebensbornheimen Hurdal Verk und Godthåb und vieles mehr.

Wie lang haben Sie für den Roman recherchiert?

Sagen wir mal von April 2018 bis in den Herbst hinein war reine Recherchearbeit. Danach habe ich begonnen, mir über die Storyline Gedanken zu machen. Allerdings war es diesmal so, dass ich auch während des Schreibprozesses immer wieder mit Dennis Aske in Kontakt stand und er mir gefühlt tausend Fragen beantworten musste. Ich habe ja noch nicht einmal alles, was ich recherchiert hatte, in den Roman gepackt. Die schiere Fülle an rätselhaften Einzelheiten war bei diesem Fall einfach überwältigend.

 

Waren Ihnen die verschiedenen Erzählstränge von vornherein klar oder haben diese sich beim Schreiben ergeben? Vor allem interessiert unsere Leser*innen, wie die fiktive Familiengeschichte entstanden ist, damit diese am Ende so toll schlüssig zu den bekannten Fakten passt.

Da muss ich ein bisschen ausholen: Zwei Personen standen von Anfang an fest. Margarete als die Isdal-Frau und Eva, die alles aufdröselt. Die dritte Perspektive, Laurin Abrahamsen, ergab sich aus dem Wunsch heraus, die Auflösung unbedingt durch „das letzte Bild“ stattfinden zu lassen. Es gefällt mir, wenn ein Titel nicht nur Titel ist, sondern als eine Art Leitmotiv fungiert und sich seine wahre Bedeutung erst am Ende erschließt. Dafür brauchte ich jemanden aus dem Umfeld des italienischen Fotografen.

Die Erzählstränge entstanden dann nach und nach, im Laufe des Schreibprozesses. Natürlich muss man vorher schon ungefähr wissen, wohin die Reise geht, aber es ist beiweitem nicht so – zumindest nicht bei mir – dass ich am Anfang dasitze, mir alles zusammenkombiniere und dann mit dem Schreiben beginne, also gewissermaßen von A nach Z schreibe. Es ist ein dynamischer, rekursiver Prozess, bei dem ich mich erst in die Geschichte hineinschreiben muss, in eine gewisse Tiefe, bis ich die Figuren kenne. So war das auch – und besonders – bei diesem Buch. Es ist ja so, dass ich der Theorie anhänge, dass die Isdal-Frau eine persönliche Beziehung zu dem italienischen Fotografen gehabt und als Reiseprostituierte gearbeitet haben muss. Eine derartig banale Auflösung für einen so komplexen Roman erschien mir jedoch unpassend und es hätte mich auch gelangweilt.

Eine von Trombolis Postkarten, Bergen 1972

Also habe ich mich während des Schreibens auf die Suche nach einem anderen Ausgang gemacht, der unbedingt mit den Lebensbornheimen zu tun haben sollte, weil das eine Entdeckung war bzw. ein Muster, das nur ich in dieser Geschichte gesehen habe: die Buchstaben des Secret Code, die sich zufälligerweise mit den Anfangsbuchstaben der Lebensbornheime deckten. Jedenfalls ist mir eines Tages bei einem Waldspaziergang die Lebensbornmitarbeiterin Inge Viermetz eingefallen, die ich durch die Arbeit an einem anderen Roman („Herbstvergessene“) kannte und die zeitweise das Lebensbornheim Végimont (Wégimont) in Belgien leitete. Überdies hatte ich auch noch in Bad Arolsen vor Ort recherchiert und hunderte von Briefen aus dem Bestand des Lebensborn gesichtet, wobei mir die Stellenanzeigen im Ärzteblatt ins Auge gesprungen waren sowie Briefe, in denen der Leiter des Lebensborn Dr. Ebner zwei jungen Ärztinnen mit Kindern eine Stelle in einem norwegischen Lebensbornheim anbot. Zur Erinnerung: die besondere Herausforderung bei diesem Buch war, Frankreich, Belgien, Norwegen und Deutschland in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, so dass eine innere Verbindung entsteht und es am Ende nicht nur so ein „random“ Hin- und Hergefahre gibt nach dem Motto: sie ist halt viel gereist. Sie sehen schon, das war eine ziemliche Herausforderung, die ich etappenweise bewältigt habe.

 

Zum Abschluss: Glauben Sie, dass das Rätsel um die Identität der Isdal Frau noch irgendwann gelöst werden kann? 

Das ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine gute Frage. Vielleicht haben Sie von den zwei Postkarten gehört, die im Januar und März an eine Bloggerin und an eine Journalistin geschickt worden waren. Die Postkarten waren in Manchester, New Hampshire, aufgegeben worden. Darin hieß es „The Isdal woman is from Meersburg, Germany“, ausgerechnet, denn ich wohne ja am Bodensee, nicht weit von Meersburg entfernt. Daraufhin berichtete die lokale Presse über den Fall [Anmerkung: hier könnt ihr den dazugehörigen Artikel lesen], allerdings auch wieder schlampig recherchiert, denn es wurden die üblichen Falschinformationen verbreitet (dass die Frau acht Pässe gehabt haben soll und dass alle Etiketten entfernt worden seien). Nach einiger Zeit meldete sich dann tatsächlich ein Mann aus Meersburg, der behauptete, die Frau zu kennen. Sie sei bei seiner Familie als Dienstmädchen angestellt gewesen. Das war allerdings schon alles. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern. Ich weiß nicht, was ich von dieser Story halten soll. Es ist schon so viel (Zeugs!) über den Fall geschrieben worden. Ich persönlich glaube nicht, dass das Rätsel je gelöst werden kann.

 

„Das letzte Bild“ von Anja Jonuleit, erschienen im dtv Verlag, 480 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

1 comment

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  1. 1
    Buchperlenblog

    Hallöchen!
    Ein interessantes Interview, was auch nochmal zrigt, wie sympathisch Anja Jonuleit ist! Ich mag ihre Bücher sehr sehr gern, besonders Rabenfrauen hat es mir angetan. Dieses hier wird auf jeden Fall auch noch seinen Weg zu mir finden, der Fall klingt super spannend!

    Liebe Grüße!
    Gabriela

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