Zwei Familiengeschichten von Vietnam bis Deutschland
Ich kann mich nicht daran erinnern, ob der Vietnamkrieg im Geschichtsunterricht meiner Schule überhaupt behandelt wurde. Ein Konflikt, der über 25 Jahre andauerte und mehr als drei Millionen Menschenleben kostete, war maximal eine Randnotiz wert. Entsprechend beschämend bisher auch mein Wissen über die Geschichte Vietnams und das Land selbst.
Vor Kurzem bin ich jedoch auf zwei Romane junger Autorinnen aufmerksam geworden, durch die ich mich diesen Themen literarisch nähern konnte.
Eine Familiengeschichte über drei Generationen
In “Der Gesang der Berge” schreibt Nguyen Phan Que Mai die Geschichte einer Familie während des Vietnamkriegs. Großmama Dieu Lan ist der starke Anker der Familie Tran und erklärt sich im Verlauf der Handlung ihrer Enkeltochter.
“Ich wollte dir nicht von seinem Tod erzählen, aber du und ich, wir haben genug Tod und Gewalt gesehen, um zu wissen, dass wir nur auf eine Art über den Krieg sprechen können: aufrichtig”
Es wirkt beinahe als würde sie ihr Gewissen befreien. Dieu Lan erzählt ihrer Enkeltochter von all den schweren Entscheidungen, die sie treffen musste, als sie durch den Vietnamkrieg zur Flucht gezwungen wurde. Die Erzählungen handeln von Kolonialismus, Krieg, Unterdrückung und Widerstand. Dabei erstreckt sich die Handlung über ein halbes Jahrhundert. All der Verlust, das Drama aber auch die Liebe lassen Dieu Lans Leben übervoll und lang wirken. Doch eigentlich ist sie eine junge und jung gebliebene Großmutter. So sind alle drei Generationen, alle drei Frauenschicksale überschattet vom Vietnamkrieg.
Der Roman erzählt dieses Kapitel der Geschichte ganz nah und direkt. Es geht nicht um die Zahlen und Fakten, sondern um Ängste, persönliche Erfahrungen und Trauma. Themen wie Mutterliebe, Zusammenhalt und Vertrauen sind wichtig. Nicht die genauen politischen Zusammenhänge und zeitlichen Abläufe. So ist der Roman auch sehr gut zugänglich (und ein toller Einstieg), wenn man wie ich bisher viel zu wenig zum historischen Hintergrund wusste.
Mit feiner Poesie in der Sprache erzählt, hat mich diese Geschichte einfach umgehauen. Vor allem weil die Autorin auch mit viel Gefühl über die Poesie in der vietnamesischen Kultur spricht.
“Wie bei vielen Bauern war für ihn das Verfassen eines Gedichts ebenso natürlich wie das Pflügen eines Feldes.”
In einer zweiten Zeitebene wird das Leben der Familie nach dem Vietnamkrieg dargestellt. Die Autorin erzählt von der Zerissenheit, zu der der Vietnamkrieg bis in die Familien hinein führte. Dieses Motiv findet sich in “Wo auch immer ihr seid” ebenfalls wieder und ist wohl die Essenz beider Geschichten.
Von Vietnam nach Deutschland
Auch in “Wo auch immer ihr seid” von Khue Pham wird eine Familie durch die Wirren des Vietnamkriegs auseinandergerissen. Dabei werden die Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb Vietnams und den Besatzern, erst französische dann amerikanische, spannend skizziert. Aber auch hier handelt es sich nicht um ein Kriegsdrama oder einen Militärroman sondern um eine persönliche Aufarbeitung des Themas.
Der Roman handelt von Kieu, die sich aber lieber Kim nennt. Ihre Eltern kamen während des Vietnamkriegs zum Studium von Vietnam nach Deutschland. Eigentlich plante der Vater später nach Vietnam zurückzukehren und dort ein Krankenhaus zu eröffnen. Doch das Leben schlug andere Wege ein und er gründete fern der alten Heimat eine Familie. Nun sind seine Kinder erwachsen und das “alte Leben” scheint fast vergessen. Bis seine Mutter stirbt und ihn eine Nachricht seines Bruders erreicht, der ihn um ein Treffen bittet. Dadurch lernt auch Kieu/Kim ihre Verwandten und deren Geschichten endlich richtig kennen.
Anders als in “Der Gesang der Berge” gibt es hier nicht einen festen Anker anhand dessen die Geschichte erzählt wird. Wie bei einem Baum werden die verschiedenen Äste der Familie der Protagonistin aufgefächert. Es beginnt mit der Geschichte der Eltern und ihrem Weg nach Deutschland, aber es werden auch deren Geschwister portraitiert.
Außerdem wird die gegenwärtige Kultur vietnamesischer Emigrant*innen mehr in den Fokus gerückt. Dadurch entsteht ein spannendes Bild von vietnamesischen Biografien. Vom Vietnamkrieg bis heute. Mit Kieu als Hauptfigur wird das super modern und nahbar erzählt, da sie in der Geschichte immer eine gewisse Vermittlerrolle einnimmt.
Hier gibt es ein Interview mit Khue Pham bei SWR2. Da spricht sie super sympathisch über ihre Karriere als Journalistin und den Weg zu ihrem Roman. Außerdem gibt es auch eine kurze Lesung aus dem Buch.
Fazit?
Der Vietnamkrieg tötet bis heute Menschen, vornehmlich Kinder. Weil diese noch immer jeden Tag in Vietnam, Laos und Kambodscha auf Teile der Millionen Tonnen nicht explodierte Sprengladungen stoßen.
Dennoch sind Vietnam, der Vietnamkrieg und das Leben vietnamesischer Emigrant*innen kaum präsente Themen in der Literatur. Um so mehr haben mich diese beiden Romane begeistert. Auf ganz unterschiedliche Weise und doch beide mit eindrücklichen Bildern.
“Was zählte war, wie viel Licht wir denen schenken konnten, die wir liebten, und wie viele Menschen wir mit unserem Mitgefühl berührten.” – aus „Der Gesang der Berge“
Zwei uneingeschränkte Leseempfehlungen. Bewegende und spannende Romane junger Autorinnen, die sich auf besondere Weise mit den Geschichten ihrer Familien befassen.
“Der Gesang der Berge” von Nguyen Phan Que Mai, übersetzt von Claudia Feldmann, erschienen im Suhrkamp Verlag, 428 Seiten und “Wo auch immer ihr seid” von Khue Pham, erschienen im btb Verlag, 300 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!
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