Endlich ein neuer Roman von Tayari Jones


Vermutlich könnte Tayari Jones auch ihre Einkaufszettel veröffentlichen und ich würde sie mit Begeisterung lesen. Ich kann nicht genau festmachen woran es liegt, aber ihre Romane bringen etwas in mir zum Schwingen. 

Sie schreibt eingängig, aber ohne dass es je platt wirkt. Ihre Figuren und Settings erzählen ganz mühelos, wie nebenbei, nicht nur von persönlichen sondern auch gesellschaftlichen Konflikten. Sie ist nicht in erster Linie eine Autorin, die „über Rassismus schreibt“. Sie ist in erster Linie eine wunderbare Erzählerin, die spannende Geschichten webt. 

Und doch denkt man nach der Lektüre viel tiefer über verschiedene Themen nach. Von der Bedeutung der Frisuren von Women of Color bis zur Vorverurteilung Schwarzer Menschen im (nicht nur) amerikanischen Justizsystem.

Hier habe ich erst im letzten Jahr darüber geschrieben, mit welcher Wucht mich die Lektüre von „Das zweitbeste Leben“ und „In guten wie in schlechten Tagen“ traf. Mit „Das Jahr, in dem wir verschwanden“ ist im Arche Verlag nun endlich ihr erster Roman in deutscher Übersetzung erschienen. 

Leaving Atlanta

Der Roman spielt im Atlanta der frühen 1980er Jahre. Dort sorgt ein Mörder für Angst, der Schwarze Jungen und Mädchen verschleppt. Diese Zeit der Bedrohung und Unsicherheit ist jedoch nicht aus der Sicht von Erwachsenen erzählt, sondern aus der Perspektive seiner potenziellen Opfer. 

Die Protagonisten sind Heranwachsende. Noch nicht ganz Jugendliche, nicht mehr wirklich Kinder. Sie bekommen die Geschichte des Kindermörders natürlich mit und spüren die Ängste ihrer Eltern. Für sie selbst bleibt die Bedrohung aber irgendwie abstrakt. 

Wer kann sich schon vorstellen, dass ein „böser Mann“ ausgerechnet in der eigenen Nachbarschaft auf der Suche nach einem Opfer ist? Dass es eines der Kinder aus der eigenen Klasse treffen könnte? Deshalb fühlt sich ihre Besorgnis auch eher pflichtschuldig an. Sie haben Angst davor, wie man sich vor Geistergeschichten gruselt: irgendwie ist das alles wirklich unheimlich, aber eigentlich weiß man ja, dass einem nichts passiert. Bis dann eines Tages doch eines der Kinder verschwindet. 

Der Roman basiert auf dem Fall des Kindermörders von Atlanta. Dieser ermordete zwischen Juli 1979 und Mai 1981 beinahe 30 Schwarze Kinder. Verurteilt wurde damals Wayne Williams. Ihm konnten jedoch nur zwei Morde zweifelsfrei nachgewiesen werden, für einige weitere gab es Indizien.
Es gab aber auch Ermittlungen der Bundespolizei, ob der Ku Klux Klan in einen Teil der Morde verwickelt sein könnte. Dafür sprachen sowohl Augenzeugenberichte als auch Aussagen einiger Klanmitglieder. Dieser brisante Aspekt des Falls wurde aber nie geklärt.

Angespannte Stimmung

Tayari Jones fängt in „Das Jahr, in dem wir verschwanden“ die angespannte Situation dieser Jahre toll ein. Aber sie schreibt hier eindeutig keinen Krimi! Es geht weder um diese konkreten Ermittlungen, noch wird auf den damals verurteilten Täter näher eingegangen.

Wir lesen stattdessen in drei Abschnitten die Perspektiven dreier verschiedener Kinder: LaTasha, Rodney und Octivia. Jedes Kind trägt seine individuellen Probleme mit sich herum. Die Kindermorde sind da – wie gesagt – zunächst gar nicht so dominant. Sie sind einfach zu jung, um die sozialen und politischen Probleme der Stadt zu verstehen.

Dennoch habe ich mit den Kindern unendlich mitgelitten. Sie erzählen von Trennungen, Problemen in der Familie, Gewalt.  Ich hatte wirklich, wirklich Angst um eine der Figuren. Octivia und Rodney sind ziemliche Außenseiter und scheinen in so vieler Hinsicht bedroht. 

Besonders interessant ist übrigens, dass Tayari Jones eine Nebenfigur mit ihrem Namen in den Roman hineingeschrieben hat. Sie spricht auch in Interviews davon, dass sie als etwa neunjährige diese aufwühlende Zeit miterlebt hat. Diese direkte Verbindung macht sie mit der (irgendwie eigenwilligen) Nebenfigur schön deutlich. 

Ja, man hört es: auch „Das Jahr, in dem wir verschwanden“ ist für mich eine Empfehlung. So ein Buch, das ich gern noch mal lesen möchte. Weil ich es an nur einem Tag praktisch verschlungen habe und gern noch mehr Zeit mit diesen liebenswerten Charakteren verbringen möchte.

 

„Das Jahr, in dem wir verschwanden“ von Tayari Jones, übersetzt von Britt Somann-Jung, erschienen im Arche Verlag, 304 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen. Folge dafür einfach den Links, Danke!

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