Browserfenster zum Hof


„Automaton“ von Berit Glanz wird auf dem Buchrücken etwas cringeig mit „Browserfenster zum Hof“ beschrieben. Das klingt vielleicht ein bisschen peinlich, trifft es aber eigentlich ganz gut: von der Realität durch eine Scheibe, beziehungsweise ein Browserfenster, getrennt, beobachtet die Protagonistin ein (scheinbares) Verbrechen und versucht ihm auf die Spur zu kommen.

Die Möglichkeiten der Beobachterin sind natürlich ganz andere, als bei Hitchcock 1954. Aber diese Art von „Ermittlungen“ ohne richtig vor Ort zu sein, übt auch hier eine ganz eigene Faszination aus. Der Roman zeigt, dass das Internet längst nicht mehr nur ein abstrakter Ort ist, sondern die digitalen Verbindungen bis in unseren realen Alltag hineinreichen können. (Kleiner Serientipp: wer es noch nicht gesehen hat und nervlich aushält, sollte sich „Don’t F**k with Cats“ auf Netflix anschauen)

Worum geht’s?

Der Roman handelt von Tiff, die junge Mutter ist alleinerziehend und versucht mit ihrem Job als Clickworkerin sich und ihren Sohn durchzubringen. Dafür arbeitet sie von Zuhause, meist nachts, an Aufträgen, die auf einem speziellen Portal von Firmen beauftragt werden. Sie ist ein sogenannter Automaton. Oft sind es Jobs, die dazu dienen sollen künstliche Intelligenzen zu trainieren. Die Automatons erfüllen kleine Aufgaben (beschreiben ein Bild, wählen passende Begriffe aus und ähnliches) und die KI lernt dadurch ebenfalls diese Aufgaben zu lösen. 

Ihr neuester Auftrag jedoch trainiert keine künstliche Intelligenz. Vielmehr werden Automatons dazu zu missbraucht, der Kundschaft eine KI nur vorzutäuschen. Die Clickworker*innen schauen sich stundenlang Aufnahmen von Überwachungskameras an und müssen auswerten was darauf passiert. Das ist in der Regel: nichts.

Doch sie erkennen nach einiger Zeit durchaus Regelmäßigkeiten in den Videos und gewöhnen sich an die Menschen, die darauf zu sehen sind. Bis Tiff eines Tages beobachtet, wie ein Obdachloser, den sie seit Wochen mit seinem Hund auf den Videos sah, plötzlich verschwindet. Sein Schicksal lässt ihr keine Ruhe und sie versucht herauszufinden, was geschah.

Der Roman hat Aspekte, die erinnern an eine Dystopie. Das beschriebene Clickwork beziehungsweise die Arbeit der Moderatoren in den sozialen Netzwerken klingt stellenweise so gruselig, dass man sich wünscht es wäre eine ferne Zukunft, die da beschrieben wird. Es ist aber unsere Gegenwart.

Lohnt sich das?

Ich war total gefangen vom Stil des Romans. Es war alles so gegenwärtig und leicht, dass ich wirklich unmittelbar in der Geschichte festhing. Aber besonders die Figuren sind großartig. Vor allem diejenigen, die wir unter den Automatons kennenlernen. Trotz ihrer scheinbaren Isolation stehen sie für Menschlichkeit und Mitgefühl. Sie müssten sich nicht für das Schicksal des Obdachlosen interessieren. Sie könnten versuchen ihre Augen vor all den Bildern zu verschließen, die sie während ihrer psychisch kraftraubenden Arbeit sehen. Doch sie investieren Zeit und Energie, um herauszufinden, was mit einem fremden Menschen geschah. Einem Menschen, der ihnen im wahrsten Sinne des Wortes so fern sein könnte.

Der Roman rückt Figuren ins Zentrum, die sonst nicht so häufig im Fokus stehen. Eine alleinerziehende Mutter mit einer Angststörung und Panikattacken, eine andere Clickworkerin hat diesen Beruf auf Grund einer Erkrankung gewählt (für mich super nachvollziehbar). Wir lernen eine Gemeinschaft „einsamer Seelen“ kennen. Alle Figuren sind eher Einzelgänger (die Automatons, der Obdachlose den sie beobachten, die ältere Frau, die ihm schließlich hilft, die Nachbarn der Hauptfigur), aber alle gehen in ihren kleinen Berührungsstellen so menschlich miteinander um.

Es werden vielleicht ein bisschen mehr große Themen aufgemacht, als die Entwicklung des Romans dann erfüllt. Die Nebenhandlung rund um den Obdachlosen war für mich ein wenig ziellos, hat sich nicht so ganz gefügt. Vor allem am Ende hat mir der große Wumms gefehlt (manches wurde zu „schön“ gelöst). Bei diesem Thema hätte es auch gern ein wenig böser sein können. Aber insgesamt sind es die Figuren und ihre Menschlichkeit, die nach der Lektüre zurückbleiben und den Roman zu einer lohnenswerten, spannenden Lektüre machen.

 

„Automaton“ von Berit Glanz, erschienen im Piper Verlag, 288 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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