Eure Leben, lebt sie alle


Mir war schon von Anfang an bewusst, dass ich nicht ganz zur Zielgruppe des Romans gehöre. Aber obwohl mir da vermutlich noch gut 15 Jahre fehlen, hat die Lektüre seltsam gut getan.

Vermutlich weil „Eure Leben, lebt sie alle“ auch so etwas hat, was sich an uns alle richtet. Weil es neben Sinnkrise und Älterwerden ganz einfach auch darum geht, was wir zurücklassen, wenn wir nicht mehr da sind. Im Roman ist es ein junger Mann, der stirbt und fünf Frauen quasi „zurücklässt“: seine Mutter, (ehemalige) Partnerinnen, Weggefährtinnen und Freundinnen. In ihrem Leben hat er Spuren hinterlassen, große und kleine, und sie damit seltsam verbunden. 

Fein verbunden

Das wird auch ganz am Anfang des Romans sehr schön beschrieben. Da ist es ein kleiner silbriger Spinnwebfaden, der bei seiner Beerdigung zwischen den Frauen umherfliegt und an allen irgendwie kleben bleibt. Fein und glitzernd, manchmal kitzelnd und vielleicht sogar ein bisschen unangenehm (je nachdem wo er hängt), aber eine subtile Verbindung schaffend, die dann im Verlauf der 335 Seiten erklärt wird.

Immer wechselnd aus der Perspektive einer der Frauen erzählt sich der Roman. Und obwohl ich bisher weder mit Demenz noch Wechseljahren kämpfe und die Midlife-Crisis maximal zaghaft an die Tür klopft, konnte und wollte ich all diese Leben unbedingt verfolgen. Jede der Frauen hat für sich so viel zu erzählen. Sie sind um die 50 (oder im Fall von Marianne um die 70) und räumen gerade ordentlich in ihrem Leben auf. Sie beschäftigen sich mit der Angst etwas verpasst zu haben: wilden Sex, tiefe Beziehungen oder berufliche Ziele. Sie versuchen die offenen Fragen ihres Lebens zu klären und ihre alternden Körper zu akzeptieren. 

Liebenswerte Figuren

Es ist übrigens fast ein bisschen zu leicht Marianne zu mögen. Sie wird beschrieben als eine dieser gewitzten, toughen und dennoch herzensguten älteren Frauen, die wir alle irgendwann werden wollen. Wirklich geliebt habe ich Frederike. Sie ist viel stiller, ungewöhnlicher. Eine liebenswerte aber zeitweise unzufriedene Frau, die eine bestimmte melancholische Seite hat, in der ich mich voll wiedergefunden habe.

Schade fand ich lediglich, dass sich die Dynamik ziemlich gegen eine der Frauen richtet. Mit Luise ist für mich zu klar eine „die Böse“, die irgendwie nie zum Kreis zu gehören scheint. Das ist eine persönliche Sache, aber ich mag lieber von starken Verbindungen und Zusammenhalt lesen. Denn auch Luises Schwächen sind ja nur menschlich und zwar in ihr sehr überzeichnet zusammengefasst, aber doch etwas, das wir alle irgendwie in uns tragen: den Wunsch alles „richtig“ und schön zu haben. Aber so unproblematisch ist das Leben selten. Wir alle müssen uns mit den Verlusten im Leben und den enttäuschten Erwartungen beschäftigen, auch wenn auf den ersten Blick alles toll und unproblematisch wirkt.

 

„Eure Leben, lebt sie alle“ von Sybille Hein, erschienen im dtv Verlag, 336 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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