Rezension: Die Gespenster von Demmin von Verena Kessler


Content Note: Suizid, Tod

Dieses Buch war mein Überraschungs-Highlight im Herbst. Und das, obwohl das Thema wirklich unfassbar deprimierend und schwermütig klingt. Bitte lasst euch davon nicht abhalten. Es ist, obwohl es sich in vielen Facetten mit dem Thema Tod beschäftigt, nicht zu düster oder erdrückend.

Doch zunächst zur Hintergrundgeschichte: zwischen dem 30. April und 4. Mai 1945 haben sich in der Kleinstadt Demmin, gemäß historischer Aufzeichnungen, mehrere hundert Menschen umgebracht. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges rückte die Rote Armee auf die Stadt vor. Die Nazis hatten die Brücken von Demmin gesprengt, um das vorankommen der Roten Armee zu verlangsamen. Damit sperrten sie aber auch die Bürger*innen der Stadt ein. Viele von ihnen gingen ins Wasser, erhängten sich oder schluckten Gift, um der Roten Armee zu entkommen. Da werden verängstigte Menschen Seite an Seite mit begeisterten Nationalsozialisten, die sich der Verfolgung entziehen wollten, in den Tod gegangen sein.

Verena Kessler greift diese Geschehnisse mit „Die Gespenster von Demmin“ auf, schreibt aber nicht das 397. Kriegsbuch, sondern arbeitet das Thema aus heutiger Perspektive aus. Es geht um die große Sprachlosigkeit, die dieses Thema in der Stadt hinterlassen hat. Was ist aus Demmin geworden? Wo verfolgen die Geister dieser Tage den kleinen Ort noch heute?

“Es nieselt schon wieder, natürlich, wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen.”

Es geht aber auch um die Sprachlosigkeit im Kleinen. Um die Dinge, die in einer Familie ungesagt bleiben und irgendwie doch auf allen lasten. Weil Trauer und Verlust sich zwar vergraben, aber nie ganz vergessen lassen. Das alles wird erzählt anhand der Geschichte eines jungen Mädchens in diesem tristen Ort, welches eine ganz besondere Beziehung zum Tod hat und auch sonst sehr speziell ist.

Larry – eigentlich heißt sie Larissa, aber das ist ihr nicht tough genug – ist die tollste Protagonistin, die mir in der letzten Zeit begegnet ist. Außerdem ist sie DER Grund warum ihr dieses Buch lesen müsst. Sie ist wahnsinnig humorvoll und durch ihre Ambivalenz so spannend. Ja, sie steckt mitten in diesen pubertären Verwirrungen, aber will doch immer einen kühlen Kopf bewahren. Schließlich möchte sie Kriegsreporterin werden. Darauf bereitet sie sich akribisch vor. Sie übt es Dinge auszuhalten, weil sie ja schließlich irgendwann gefoltert werden könnte. Ihre gleichzeitig so altkluge wie naive Art, die toughe Fassade und ihre Sensibilität haben sie für mich so besonders gemacht.
Und, Sorry, aber ihre Schnauze, ey! Ich habe mich köstlich amüsiert. Wie aus ihrer Perspektive die Umgebung und anderen Charaktere beschrieben werden, ist so herrlich komisch.

“Hält sich wahrscheinlich für super weltmännisch. Tja. Jetzt sitzt er trotzdem in Demmin bei Schramms auf dem Sofa.”

Mehrmals pro Woche dreht Larry ihre Runde über den Friedhof. Sie harkt Laub, sammelt Müll ein und gießt die Pflanzen auf den Gräbern. Auch dabei werden die Kontraste dieser Figur schön gezeigt: sie kalkuliert kühl, wann die alten Damen auf dem Friedhof sind und ihr ein Taschengeld zustecken, ist aber trotzdem ehrlich mitfühlend mit ihnen. Und obwohl die Gräber insgesamt sie eher kalt lassen, gibt es einige, die sie doch bewegen.

Überhaupt hat Larry eine sehr innige Beziehung zum Tod und den Toten. Sie fragt sich wie sich sterben anfühlt und denkt viel an die Verstorbenen von Demmin.

“Aber ich hab immer das Gefühl, dass ich entweder übertreibe oder untertreibe oder in meinem Kopf irgendwas dazwischenrutscht, was ich mir bloß ausgedacht habe.”

Verena Kessler lässt ihre jugendliche Protagonistin all diese naiven Fragen stellen und Gedanken denken, die wir erwachsenen Protagonist*innen nicht zugestehen würden. Durch diesen unbedarften Blick wirken die Überlegungen über die Geschehnisse von Demmin manchmal noch härter, es nimmt ihnen aber gleichzeitig die Schwere.

Als Kontrast gibt es im Roman übrigens die Figur der Frau Dohlberg, Larrys betagte Nachbarin. Ihr steht ein Umzug ins Altersheim bevor, und mit dem Ausräumen des Hausstands erinnert sie sich an ihre Geschichte. Schließlich ist sie eine der Überlebenden von Demmin. Auf ihre Art ist sie Larry gar nicht unähnlich, tough und irgendwie eigensinnig.

“Demmin ist im Dunkeln nicht gerade Disneyland. Im Hellen natürlich auch nicht…”

Mich hat sie bewegt, die Geschichte von diesem Ort und diesen beiden Figuren. Ich habe viel Gelacht und ein kleines Tränchen verkniffen und möchte es seitdem am liebsten allen Menschen empfehlen!

Es ist übrigens sehr schön gelungen, wie die vielen kleinen Details im Roman am Ende alle ein schlüssiges Ganzes ergeben. Das zeigt, dass hinter dem lockeren Ton viel Gewicht und Bedeutung steckt. Ein Buch jedenfalls, das mir noch lang im Kopf hängen bleiben wird. Wie der Schwan da rein passt und ob Larry am Ende wirklich Kriegsreporterin wird? Das müsst ihr wohl beim Lesen dann selbst rausfinden…

 

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Wenn man sich für das Buch und die Thematik begeistert, kann ich die Dokumentation “Über Leben in Demmin” emfpehlen. Dort werden Bürger*innen des Ortes zu dem Massensuizid 1945 befragt. Es ist manchmal schwer auszuhalten, wie offen rechtes Gedankengut auch heute noch Platz in diesem Ort hat. Jedes Jahr rufen rechte Organisationen zu einem Trauermarsch in Demmin auf, missbrauchen die Toten für ihre Propaganda. Aber auch der Protest der Demminer*innen wird gezeigt. Sie wollen nicht, dass ihr Ort für diese Zwecke vereinnahmt wird. Und wer das Buch liest, wird vermutlich einige Szenen und Figuren der Dokumentation vage wiedererkennen, denn auch die Autorin hat die Geschichten dieser Menschen verfolgt.

 

„Die Geister von Demmin“ von Verena Kessler, erschienen bei Hanser Berlin, 238 Seiten

1 comment

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  1. 1
    Anja

    Danke für diesen Tipp! Ich habe das sehr gerne gelesen, auch wenn ich dachte, dass es eher ein Jugendroman ist. Immerhin mutet gerade der Hanser Verlag seinen jungen LeserInnen gerne mal was zu, oder besser, er traut ihnen was zu. Also eine Coming -of-Age Geschichte, nicht umsonst guckt die Protagonistin kurz in den Salinger rein (und liest ihn dann nicht). Tolle Hauptfigur, interessante Nebenfiguren und nie passiert etwas so, wie man es erwartet.
    Erstaunlicherweise hatte ich von Demmin noch nie zuvor gehört, dabei dachte ich, viel über die Zeit des Dritten Reiches zu wissen. Kolossale Lücken tun sich da auf… So habe ich also sogar noch was gelernt.
    Ein ganz und gar feiner Roman.

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